Stadtporträt: Santiago de Chile

SANTIAGO FEMINISTAS – die treibende Kraft im Land

Ines Mitterer

ATMO: Proteste

OT karina 2019 1 mio alle anliegen 1

Mod.: Es ist der 8. März 2019, der internationale Frauentag und eine Million Menschen marschiert, Banner schwingend und Forderungen skandierend, durch das Zentrum von Santiago. Von oben zeigen die Fernsehaufnahmen einen dichten Teppich aus Menschenköpfen in den Straßen und auf den Avenidas. Das war der größte soziale Protestmarsch, den es in Chile seit Beginn der Demokratie gegeben hatte, erzählt uns die Anwältin Karina Nohales in einem Straßenkaffee im Zentrum.

OT karina größte kundgebung der demokratie

Mod.: Dabei sei es feministischen Aktivistinnen wie der größten Gruppierung, der Coordinadora 8 M, der Koordinierungsgruppe 8. März, gelungen, Protestierende aus allen Bereichen anzusprechen, auch solchen, die historisch nichts mit Feminismus am Hut hatten, wie Gewerkschaften, Umweltinitiativen oder Aktivist*innen, die für leistbaren Wohnraum kämpfen. Karina Nohales ist im Hauptberuf Anwältin für Arbeitsrecht und Sprecherin der Coordinadora 8 M, der größten und einflußreichsten feministischen NGO Chiles.

OT karina 2019 1 mio alle anliegen 2

Mod.: Es war die Generalprobe für das, was danach kam. Und Chile für immer verändert hat. Alle hier sprechen von einem „Davor“ und „Danach“. Die soziale Revolte vom Herbst 2019.Denn die Regierung hatte dem Ruf nach mehr Rechten für Frauen, nach Gleichstellung, aber auch nach höheren Löhnen, besserer Bildung, nach einem Ende des fundamentalistisch neoliberalen Wirtschaftssystems, der Forderung nach besseren Pensionen und leistbarem Wohnen kein Gehör geschenkt. Was an diesem 8. März von Frauen und Männern in die heisse und erhitzte Luft Santiagos geschrieen worden war, waren nicht mehr nur klassisch feministische Forderungen, die Wut der Frauen hatte die ganze Gesellschaft mobilisiert. Und der Versuch der Regierung des ultraliberalen Milliadärs Sebastián Piñera, die kämpferischen Ladies wieder in ihre Schranken zu weisen und zu ihren Kernthemen: machistische Gewalt gegen Frauen, Reproduktionsrechte und GenderPayGap zurückzupfeifen, ist nicht gelungen.

OT karina nicht die einzigen probleme

Mod.: Das sind schon auch unsere Probleme, natürlich, sagt Karina Nohales, aber bei weitem nicht nur. Die Politiker haben uns zu verstehen gegeben, dass wir uns aus gesellschaftspolitischen Themen heraushalten sollten.

OT karina forderung entmilitarisierung, wohnraum nicht gerechtfertigt: cocina!!

VO: ….dass die Forderung nach Entmilitarisierung der Mapuche Territorien kein feministisches Anliegen sein soll,  oder dass unsere Visionen von einem gerechteren Sozialsystem oder faireren Wohnungspreisen und so weiter nichts mit Feminismus zu tun haben sollen. Sie wollten uns an einen historischen Ort zurückschicken, den wir nicht hätten verlassen sollen: Küche und Herd.

Mod.: Aber da war der Geist schon aus der Flasche.

ATMO: performance las Tesis Teil 1

Ü: „Das Patriarchat ist ein Richter, der uns dafür verurteilt, dass wir geboren wurden, und unsere Strafe ist die Gewalt, die man nicht sieht“.

Mod.: Den Künstlerinnen des Performancekollektivs Las Tesis gelingt es, auf virtuose Weise zu zeigen, dass Gewalt gegen Frauen und Verletzungen der Menschenrechte durch staatliche Gewalt Ausdruck des gleichen Systems sind. Ihre Hymne „El violador eres tú – Der Vergewaltiger bist du“ geht um die Welt.

ATMO: performance las Tesis Teil 2

Mod.: Als die Regierung Anfang Oktober 2019 den Fahrpreis für die U-Bahntickets erhöht hat, war das der sprichwörtliche Funke, der zur Explosion geführt und Santiago für immer verändert hat.

OT karina stgo cambio completamente

ATMO: Estallido

OT am tag metro von alltäglichem zu epischem tocar!

VO: Am Tag des Ausbruchs   der Unruhen, am 18.Oktober 2019 wurde aus dem Alltäglichen – der Metro – etwas Geschichtsträchtiges, Episches.

ATMO: Aufstände + Schüsse

Mod.: Von Oktober bis zum ersten pandemisch bedingten Lockdown in der 2. Märzwoche 2020 sind die Menschen immer wieder auf die Straße gegangen, um für ein sozialeres Chile zu protestieren, friedlich, lautstark oder gewalttätig. Die Stadt rund um das Epizentrum Plaza Italia hat gelitten. Molotowcocktails und Pflastersteine auf der einen Seite, Panzer, Gummigeschoße, Wasserwerfer und Tränengas auf der anderen. Die Spuren der Auseinandersetzung sind noch zu sehen. Verrauchte Mauern von den Bränden, Graffitis, die das Geschehen kommentieren. Die Regierung hat das Militär geschickt, um der Auschreitungen Herr zu werden, zum ersten Mal in Zeiten der Demokratie und das hat die Santiagueñas y Santiagueños nur noch wütender gemacht. So wie die Brutalität der Repression: 34 Menschen sind dabei gestorben, um die 400 haben dabei ein Auge verloren, weil die Polizei ihre Gummigeschoße gezielt auf die Augen der Protestierenden abgefeuerthat.

OT karina andere stadt euphorie und verzweiflung ob der nachrichten

VO: Die Stadt war für ihre Bewohner plötzlich ganz anders. Es herrschte da so eine besondere aber auch widersprüchliche Komplizenschaft auf der Straße. Du bist bei den Protesten mitmarschiert und hast diese beeindruckende Energie gespürt, und dann bist du nach Hause gegangen und hast in den Nachrichten gehört, was schon wieder Schreckliches passiert war. Das war andauernd so eine emotionale Achterbahn.  

Mod.: Erst das Verprechen der Regierung, eine neue Verfassung erarbeiten zu lassen, hat die Lage beruhigt und dann kam die Pandemie……

ATMO: Ubahn

Mod.: Vom aktivistischen zum angewandten Feminismus. Dafür fahren wir hinaus aus dem Zentrum zu Karinas Schwester Vania im Viertel Macul, Stadtteil „La Jaime“. Einstöckige Einfamilienhäuser, recht bescheiden gebaut, stehen da vor der atemberaubenden Kulisse der Anden, die da so an die 6000 Meter hoch und auch im frühen Sommer noch schneebedeckt sind. Es ist eine mittelständische Gegend und Vania Acuña Peña, sie ist klinische Psychologin und Familientherapeutin erklärt, dass auch in bestimmten Teilen Santiagos wie früher in den Dörfern, die Gemeinschaft einspringt, wenn auf die öffentliche Verwaltung kein Verlaß ist.

ATMO: weggehen hola vecina, hund, schweissen

OT vania plaza machen die nachbarn /schweißen im hintergrund

VO: Diesen Platz hier mit Park und Kinderspielplatz haben die Nachbarn angelegt und sie betreuen ihn auch.  Er hat zu einer Kirche gehört, die sich aber nicht darum gekümmert hat. Die Nachbarschaft hat angefangen, zu bauen und konnte dann sogar die Kirche loswerden.

Mod.: Wir machen einen Samstagnachmittagspaziergang durchs Viertel. Ein Luxus hier zu wohnen, bei den Wohnungspreisen, auch  wenn die Häuser hier großteils sehr einfach sind, mit gerade einmal einem Meter Gartenstreifen bis zum Zaun der Nachbarn. Vanias Mann übt daheim vor dem Haus schweißen für einen besonderen Arbeitseinsatz am Montag – die vierjährige Tochter Kata begleitet uns.

OT vania nachbarn giessen immer noch, als gehrte es ihnen, jeder haus selbst gestaltet, wie es ging

VO: Die Nachbarn gießen noch immer die Pflanzen, obwohl inzwischen die Gemeinde vorbeikommt und das erledigt. Die alten Leute kommen mit ihrem Schlauch und gießen, weil es hier diese Vorstellung gibt, dass wir für unser Wohnviertel auch verantwortlich sind, weil die meisten ihre Häuser ja auch selbst gebaut haben. Deshalb schauen hier auch alle Häuser anders aus, weil jeder so gebaut hat, wie er gerade konnte.

Mod.: Der Grund wurde den Bewohnern einst zu relativ niedrigen Preisen überlassen – es war also keine Landnahme wie in den Slums, sondern ein staatliches Förderungsprojekt. Anders als in anderen Gegenden der Großstadt mit ihren insgesamt 8 Millionen Einwohnern, kennt man sich hier persönlich und schaut auf sich. Die Murals am Hauptplatz der Siedlung erzählen die Geschichte des Ortes.

OT vania murales mit gründungsmythos, trauben 1

VO: Was stellt es dar? Als die Leute in den 1960er Jahren hierhergekommen sind, waren das alles noch landwirtschaftliche Gründe.

Und es gab viele Weingärten. Die Frauen mit den Krügen zeigen, dass man Wasser von weit her holen musste; das da sind die Anden da hinten – und die Männer da zeigen, dass jeder sein Haus mit eigenen Händen selbst gebaut hat.

OT vania murales mit gründungsmythos, entführter bus 2

VO: Und dieser Bus da soll darauf hinweisen, dass kein Bus hierher gekommen ist am Anfang und die Bewohnerinnen und Bewohner mussten weit gehen, um zu ihrer Arbeit zu kommen. Also haben sie eines Tages einfach einen Bus entführt. Und zum Chauffeur gesagt: dein Bus muss bis in unsere Siedlung fahren.

ATMO: Flohmarkt

Mod.: Ohne Eigeninitiative und Nachbarschaftshilfe geht hier gar nichts. Inzwischen sind wir bei einem sehr bescheidenen Flohmarkt angekommen. Kleidung für Kinder und Erwachsene, ein paar Spiele – Kata will angeln spielen für ein paar Pesos …

OT vania mercado de pulgas, menschen verkaufen ihre sachen, schmerz

VO:  Hier gibt es einen Flohmarkt …. Wo Nachbarinnen und Nachbarn, denen es finanziell sehr schlecht geht, gebrauchte Sachen verkaufen. Das ist etwas, was mir echt weh tut, weil das Menschen sind, die keine Arbeit haben, oder eine, die so schlecht bezahlt ist, dass sie so etwas dazuverdienen müssen.

OT vania dafür braucht es feminismus – arbeiten frauen gegen präkariat

VO: Das nennen wir Feministinnen: Prekarisierung des Lebens. Du musst da an einem Tag deines Wochenendes hier stehen, weil dein Gehalt nicht zum Leben reicht. Und, wenn du genau schaust, sind die meisten hier Frauen. Mit unserem volksnahen Feminismus versuchen wir Bewußtsein dafür zu schaffen.

ATMO: Plauderei mit Mann und Kata

OT vania raum für soziale aktivitäten, sammlung für operation von nachbarin

VO: Da drüben, schau, da verkaufen sie Sandwiches, das Lokal gehört der Leiterin der Nachbarschaftsversammlung.  Hier passiert ganz viel solidarische Arbeit. Heute vormittag hat es zum Beispiel ein Benefizmittagessen gegeben, weil eine Nachbarin Geld für eine Schulteroperation braucht. Jeder trägt etwas dazu bei, bringt Lebensmittel, kocht und dann verkauft man es hier in der Nachbarschaft.

Mod.: Während der Pandemie haben die Frauen Lebensmittel gesammelt und für diejenigen gekocht, die nicht hinaus konnten oder ihre Einkünfte verloren haben. Olla común – Gemeinschaftstopf hat diese Initiative geheissen und auch ihr ist auf den Murals, den Wandmalereien im Viertel eine große Fläche gewidmet. Mujeres del Jaime q‘ alimentansteht da – die Frauen von Jaime, die für essen sorgen. Gegenüber steht ein ein flaches weisses Gebäude, schaut ein bisschen aus, als hätte man 2 Container zusammengestellt – darauf steht in blau: Farmacia comunal.

OT vania farmacia comunal kostet 1/10 von ketten, alles privat

VO: Das ist eine Gemeindeapotheke; kommunal geführt. In Chile ist alles privat und sehr teuer; ein Medikament, das hier 1000 Pesos kostet, kostet in einer der Apothekenketten 10.000. Der Gewinn ist astronomisch und so hat man diese quasi gemeinnützigen Apotheken geschaffen für einen lebenswichtigen Bereich wie Gesundheit und zum Glück haben wir so eine Apotheke hier bekommen.

ATMO: am Kinderspielplatz + Nachbarin

Mod.: Vorbei an einem kleinen aufblasbaren Schwimmbecken für die Kinder am Straßenrand, kommen wir zum Spielplatz. Das übliche Programm gibt es hier: Schaukeln, Rutschen und genug Platz für die Eltern zum Sitzen und Plaudern und heute, um neugierigen Besuchern das chilenische Leben zu erklären.

OT vania; diktatur zerstört sozialsystem statt dessen american dream

VO: Wie sind wir an diesen Punkt gekommen? Die Militärdiktatur hat alles zerstört, was mit sozialer Absicherung zu tun hatte. Rechtssystem, gute Bildung, gutes Gesundheitswesen, gratis Unis, halbwegs würdige Pensionen; würdige Wohnungen, gut gebaut, nicht allzu klein…. Und im Gegenzug haben sie uns die Illusion einer fröhlichen Konsumwelt verkauft, in der jeder allein mit seiner Arbeitskraft schon die Uni bezahlen wird können – den amerikanischen Traum, weißt du?! Ein Auto kaufen kann, Zugang zu Markenkleidung, Schmuck und Luxusprodukten haben wird.

Mod.: Tja, dieser Traum ist nicht wahr geworden. Und so kommt man gerade einmal so um die Runden….. Vania arbeitet derzeit von zu Hause aus, während Kata im Kindergarten ist, kümmert sich um politische Bildung im Viertel und ist bei der feministischen NGO Coordinadora 8 M für das Mütterprogramm zuständig. Und ihr Mann?

OT mann fährt arbeiten 4 stunden von stgo mineria lejos? no! bleibt dort 14 tage

VO: Mein Mann fährt dann in den Norden, um im Bergbau zu arbeiten. Am Montag! Morgen hat er noch einen Tag um sich darauf vorzubereiten, dann fährt er.

IM: bleibt er dort?

VO: 14 Tage.  14 Tage arbeiten und 14 Tage frei. Darauf bereiten wir uns jetzt vor.

IM: Ist es weit dorthin?

VO: Nein, nein, nur 4 Stunden von Santiago entfernt.

SANTIAGO Nona Fernandez Der Mapocho und die Erinnerung 

Ines Mitterer

ATMO: Flußrauschen

Zitat Gründungsmythos

Im Jahre 1541 betritt der spanische Konquistador Don Pedro de Valdivia das erste Mal das Tal des Mapocho. Er steigt bis zum Gipfel des Bergs Huelén hinauf, der da natürlich noch nicht den Namen irgendeiner Heiligen trägt, und betrachtet die Landschaft. Er entschließt sich, ein Bad im Fluss zu nehmen. Don Pedro zieht seinen Helm, seine Stiefel und seine Eisenrüstung aus und tritt an das Ufer des Mapocho, der zu jener Zeit noch kein Sammelbecken von Scheiße und Abfall ist, so wie er es später sein würde, sondern vielmehr ein Quell reinen Wassers, welches man sogar trinken konnte, wenn es einen dürstete. …… Don Pedro zögert nicht lange und springt ins Wasser. Und als sein Kopf untertaucht, so erzählt man, da spricht eine Stimme zu ihm, die ihm aufträgt, an dieser Stelle eine Stadt zu gründen: »Pedro, hier soll das Herz Chiles schlagen, dies soll der Nabel deines Landes sein.

ATMO: Fluß hoch

OT nona fluß für abfall entsorgen im buch

Ü: Der Fluß Mapocho übernimmt in meinem Buch die Rolle der Müllentsorgung. Eine Art Kloake, wo wir alles entsorgen, was wir nicht sehen wollen. Seit der Gründung Santiagos war das so.

OT nona sollte wie seine sein, aber nicht diese funktion, metapher für psyche der stadt (lachen frei, wenns geht!!)

Ü: Viele unserer Präsidenten haben verkündet, dass dieser Fluß wie die Seine in Paris sein wird. Aber das ist unmöglich. Und der Mapocho hat eine andere Aufgabe: wir entsorgen hier unsere Geschichte und deshalb eignet sich der Fluß so gut als Metapher für die Psyche dieser Stadt.

ATMO: Fliegende Händler beim Bahnhof

IM: Der Mapocho ist zentral in Santiago, er durchschneidet die Stadt, fließt durch reiche Viertel, arme Viertel, das Zentrum. Wir treffen Nona Fernández in einem kleinen Park am Ufer, das man sich nicht allzu romantisch vorstellen darf. Es riecht streng. Graffitis überziehen die Ufermauern und geben sich kämpferisch. Kleine schmutzige Zelte schützen die Ärmsten vor Wind und Regen, fliegende Händler verkaufen Kleinkram, der oft ausschaut, als käme er von der Müllkippe. Es ist nicht die prachtvollste Zeit des Rio Mapocho und seiner Gestade ……und diese Farbe ….. war das immer so??

OT nona color kaka, nie seine, nicht gut erzogen

VO: Wir sagen er hat die Farbe von Scheiße, Color Caca. Eigentlich hat er die Farbe der Erde, die er aus den Bergen mitnimmt; bei den früher so häufigen Überschwemmungen hat er noch dazu alles mitgerissen, was ihm in den Weg kam. Früher war er auch Abwasserkanal – aber das ist vorbei. Eigentlich ist er recht sauber, aber er wirkt so schmutzig, schmuddelig. Nicht wirklich wie die Seine.  Er ist über die Ufer getreten, hat Stadtteile zerstört, sein Bett verändert …. Das war nie ein wohlerzogener Fluß.

IM: Aber er hat viel gesehen. Nona Fernandez, die im Nebenberuf auch Drehbücher für leichtere Fernsehunterhaltung schreibt, lebt in ihren Büchern ihre „dunkle“ Seite aus, geschichtsbewußt. Da schwimmen dann schon nicht wenige „Tote im trüben Wasser des Mapocho“, wie einer ihrer bekanntesten Romane heisst.

OT nona fotografia de cadaveres, se ve …

VO: Ausschlaggebend war eine Fotografie von 3 Leichen, aufgenommen auf der Brücke, die man dort drüben sieht. Das Foto war aus der Zeit des Militärputsches von Pinochet, Anfang der 1970er Jahre. Drei Leichen – ich wußte, dass das nicht die einzigen Ermordeten waren, die über den Fluß entsorgt wurden, hatte aber noch nie ein Foto davon gesehen.

ATMO: Fluß und unheimliche Töne:

Zitat Diktatur: Wir erkannten das Wasser des Mapocho vor uns. Wir waren gar nicht so weit weg. Wie lange hatten wir den Fluss schon nicht mehr gesehen? Sie brachten uns ans Ufer und ließen uns geradeaus rennen, in Richtung des Flusses. Wir gehorchten. Wir hatten nicht einmal die Zeit, darüber nachzudenken, warum sie uns ziellos in eine Richtung laufen ließen. Wir konnten gerade mal ein paar Schritte tun. Man sagt, eine einzige Salve habe uns alle ausgelöscht. Unsere Körper wurden in den Mapocho geworfen. Jedes Mitglied der Mannschaft mit mehreren Kugeln im Leib. Die Trikots voller Blut, die Hemden verschmutzt von Staub und Dreck. So blieben wir liegen, Hunden, Ratten und dem dreckigen Wasser des Mapocho ausgeliefert.

OT nona triste realidad histórica

VO: Die Toten im Fluß waren kein Monopol der Militärdiktatur; dieses Bild zieht sich leider wie eine Konstante durch die Geschichte dieser Stadt. Nicht immer natürlich – jetzt, da wir hier sitzen, schwöre ich ihnen, dass Sie keine Toten im Fluß sehen werden, aber immer wieder kam das vor – das ist eine traurige historische Wahrheit.

IM: Nicht weit von hier gab es bis ins Jahr 1888 eine legendäre Steinbrücke. Cal y Canto. Sie machte mit ihren 202 Metern Länge und 11 turmgekrönten Steinbögen eine Menge her, ein Bollwerk, eines der architektonischen Highlights der Stadt für circa einhundert Jahren.

Der Erbauer, oberster Beamter der Kolonialmacht Spanien, bediente sich forcierter indigener Arbeitskraft, um sie zu errichten …..

Zitat Brücke Cal y Canto Die Brücke hört noch immer den Lederriemen auf den Boden knallen. Sie hört, wie die Peitsche durch die Luft saust, zischt, bis sie den Rücken irgendeines Gefangenen trifft. Ein ums andere Mal schlägt die Geißel zu. Die Brücke kann ihren Klang nicht vergessen. Ebenso wenig wie das ständige Klagen und Stöhnen, das Klirren der Ketten, die auf dem Boden schleiften

IM: Eines Tages im Jahr 1888 reisst der über die Ufer getretene mächtige und wilde Fluß die monumentale Steinbrücke samt den Seufzern mit sich, Richtung Pazifik.

Wo sie stand, gibt es heute eine U-Bahnstation, in der man noch ein paar Trümmer davonsehen kann und am einen Ufer steht ein imposanter Bahnhof.

ATMO: Zug alt

Zitat Bahnhof Mapocho

Der Bahnhof Mapocho wirkt sehr französisch. Diese lächerliche Mode, um jeden Preis europäisch zu wirken, führte dazu, dass dieses Gebäude hier errichtet und Neunzehnhundertirgendwas mit Trommelwirbeln und Paukenschlägen eingeweiht wurde. Um davon abzulenken, dass alles an dem Bau nach Plagiat schrie, gab man ihm einen soliden einheimischen Namen. Man taufte ihn auf den Namen des Flusses Mapocho: Bahnhof Mapocho.

IM: Jahrzehntelang war der schöne Bahnhof Mapocho am Ufer des gleichnamigen Flusses dem Verfall preisgegeben, nachdem er zuvor, in großzügiger Geste, viele spanische Exilierte aufgenommen hatte, die vor der Franco Diktatur geflüchtet waren. Eine Plakette erinnert noch daran. Fluchthelfer war niemand geringerer als der Nationaldichter Pablo Neruda. Jetzt findet im umfunktionierten Gebäude eine Buchmesse statt…

Zitat Kulturzentrum: Man entfernte den Geruch von Scheiße und Urin, nutzte das Skelett des Bahnhofs und baute ihn noch schöner wieder auf. Nun erfüllt die Stadt ihre Mindestquote in Sachen Kunst und Kultur im Bahnhof Mapocho.

Ausstellungen, Theaterstücke, Buchmessen, kurz: Jegliche anstehende Veranstaltung dieser Art findet hier statt. Ein Bahnhof, ein Ort des Durchgangs, an dem auch die Kultur kommt und geht. Sie kommt, grüßt, gefällt, aber sie bleibt nie lange. Das ist heute der alte Bahnhof Mapocho.

IM: Den reissenden Fluß von anno dazumal gibt es nicht mehr. Die langjährige Dürre hat den stolzen und unbändigen Mapocho zum dürren Flüßchen gemacht. Man applaudiert, wenn es einmal regnet und die Wasserhöhe ansteigt, erzählt Nona Fernández, unsere literarische  Begleiterin. Und manchmal bieten der Fluß und seine unstete Umgebung auch Schutz vor Ungemach.

OT nona teatro centro de primer auxilio polizeigewalt

VO: Während des großen Aufstandes 2019 hat viel hier an der Avenida Alameda, gleich neben dem Fluß stattgefunden, vor allem auf der Plaza Baquedano, die wir seitdem Plaza de la Dignidad, Platz der Würde, nennen. Wir sind alle vor der Polizeigewalt weg Richtung Fluß gelaufen und der Fluß war so etwas wie die Rettung, wo man sich in Sicherheit bringenkonnte. Die überdachte Fußgängerbrücke, die eigentlich ein Minitheater ist, hat ihre Türen geöffnet und man konnte sich dort vor der Gewalt der Polizei schützen. Plötzlich sind dann irgendwann die Leute von der Rettung aufgetaucht und das Theater über dem Fluß wurde zur großen Erste-Hilfe-Station.

OT nona brutalität zyklisch wie wasser, nicht nur tote, versucht, nicht gelungen

VO: Es ist ein Zyklus. Wie der des Wassers, ein Zyklus der Gewalt ohne Ende. Gewalt , die sich nicht nur in Leichen im Fluß niederschlägt, sondern auch in prekären Lebensverhältnissen, in dieser Ungleichheit, und all den Problemen, die uns die vielen Jahre dieses Wirtschaftssystems gebracht haben. Es ist eine Geschichte ohne Ende – wir können uns nicht von diesem Albtraum befreien. Wir haben es jetzt wirklich versucht mit der neuen Verfassung, das war eine ungeheure Anstrengung, aber, es ist uns nicht gelungen.

IM: un d trotzdem:

OT nona hay energia!!

Ü: Aber es gibt Energie, es gibt Kraft. Die Menscheit hat so lange durchgehalten, stell dir vor, wie könnte sie jetzt scheitern!!

GAM – Das Centro Cultural Gabriela Mistral. Die soziale Kulturmaschine

Ines Mitterer

ATMO: Verkehr heftig

Mod.: Eine riesige rechteckige Box, das letzte Stockwerk schwebt wie eine weitere flache Schachtel über den anderen Stockwerken. Die Fassade ist mit durchbrochenem rostigen Metall verkleidet und erstreckt sich da über mehr als 200 Meter Avenida Bernardo OHigginsentlang. Dahinter steht ein etwa 30 Stockwerke hoher Turm. Das Centro Gabriel Mistral ist eine enorme Kulturmaschine, die ihre Aufgabe auch im Sozialen sieht.

OT 5 Programmierung, Avantgarde + Soziales

VO: Wir bemühen uns um eine innovative Programmierung, Avantgarde, zeitgenössisch, aber sie soll auch dem gesellschaftlichen und politischen Puls der Zeit folgen.

Mod.: Auf der Fassade zitiert ein riesiges Plakat die Volksbildnerin, Feministin und Dichterin Gabriela Mistral, Literaturpreisträgerin von 1945:

Sprecherin: Die Menschheit ist etwas, das noch menschlich gemacht werden muss/humanisiert werden muss.

Mod.: Darunter die Frage: Wie steht es um die Armut in Chile heute? Und riesige Gemälde zeigen Szenen aus dem Leben der Indigenen. Das GAM zeigt Flagge. Auf seinen knapp 22.000 qm Theater-, Konzert-, Ausstellungs- und Diskussionsfläche versucht man, sagt Direktor Felipe Mella, den gesellschaftlichen Diskurs künstlerisch weiterzuspinnen.

OT 6 Protestmärsche bilden aktuelle Debatten ab – auf die Bühne

VO: Wie sie vielleicht wissen, führen alle großen Protestmärsche in Santiago hier vorbei und wir nehmen viele der Themen, die hier verhandelt werden auf: Menschenrechte, Geschlechterfragen, sexuelle Diversität etc. und bringen sie auf die Bühne, wie es uns von den Künstler*Innen dann im Haus angeboten wird.

ATMO: Homenaje a Camilo Catrillanca

Mod.: Auch der riesige von einem Gebäudeteil überdachte Platz zwischen Block A und B des Kulturzentrums wird als semiöffentlicher Raum genutzt. Was hier zu hören ist, ist eine Hommage an die Opfer von Polizeigewalt im Territorium der Mapuche. Hunderte Tänzer, Männer mit nacktem Oberkörper, Frauen in schwarzen Gewändern, einige mit indigenem Kopfschmuck bewegen sich im Rhythmus der Musik, liegen bäuchlings am Boden, zeigen das Ringen der Bevölkerung nach Anerkennung, rufen, schreien, trommeln.

Mod.: Sie tun es auf historischem Boden. Das GAM, kurz für Centro Gabriela Mistral hat eine bewegte Geschichte und ist so etwas wie ein Spiegel der jüngeren Vergangenheit Chiles: es war zuerst internationales Kongresszentrum für Allende, dann Regierungssitz und  Hochsicherheitstrakt unter der Militärregierung mit Pinochets Büro im Penthaus des Turmes und ist jetzt eines der aufregendsten Kulturzentren des Landes.

ATMO??

Der Grundstein wurde 1971 vom damaligen Präsidenten Salvador Allende gelegt. Und seinen Verantwortlichen für den Bau, Wohnbauminister Miguel Lawner kann man noch besuchen. Er wohnt 96-jährig im eleganten Gartenstadtteil La Providencia und mischt immer noch eifrig mit im urbanistischen Diskurs Santiagos, zuletzt beim Erarbeiten der neuen Verfassung. Damals 1971, erinnert er sich, kam Allende von einer Reise zurück und sagte:

OT Lawner UNCTAD

VO: Ich bin sehr  dankbar dafür, euch mitteilen zu können, dass Chile die Ehre zufällt, Austragungsort der 3. Ausgabe der UNCTAD zu sein.

Mod.: Die Konferenz der vereinten Nationen für Handel und Entwicklung brauchte eine gewaltige Infrastruktur. Einen Plenarsaal für 3000 Menschen, kleinere Säle für 200-300 Konferenzgäste und Wohnungen für alle, weil so eine Versammlung mehr als ein Monat dauert. Eine Gebäude musste her und zwar schnell: es blieben nur mehr 275 Tage bis zur Eröffnung…. Allende gab den anwesenden Architekten 2 Stunden Zeit, zu entscheiden, wer die Aufgabe übernehmen wollte.

OT UÜ Lawner 2 Stunden Zeit wer und wo

Mod.: Miguel Lawner war da gerade mit der Errichtung eines Wohnviertels an der Alameda beschäftigt, das Gelände war bereits vom Staat angekauft worden und es wurde in Null Komma nix zum Bauplatz. Eine Herkulesaufgabe in weniger als einem Jahr ein so komplexes Gebäude aufzustellen. Felipe Mella, der Direktor des Hauses heute, kennt die Geschichte aus Erzählungen:

OT Felipe 2 Allende bittet um moderne Architektur + OT 3 bringt sich ein

VO:  Allende erinnert die Architekten daran, dass Chile zu diesem Zeitpunkt im Vergleich zu anderen südamerikanischen Ländern sehr fortschrittlich und modern war und das Gebäude das spiegeln sollte. Er ist dann auch fast täglich auf die Baustelle gegangen und hat mit den Arbeitern Mittaggegessen, um sie zu motivieren und hat Künstler eingeladen, die das Haus mitgestalten sollten.

Mod.: Logistisch war das eine verrückte Herausforderung. Es wurde 24 Stunden am Tag in 3 Schichten gearbeitet. Um das alles zu koordinieren, erzählt Miguel Lawner hatte man zum ersten Mal mit dem Computergestützten System PERT gearbeitet.

OT Lawner zum ersten Mal Computersystem

Mod.: Einen einzigen Computer gab es 1971/72 in Chile, an der Technischen Universität, groß wie ein Schrank und Lawners engster Mitarbeit kannte sich damit aus. Alle Verantwortlichen der verschiedenen Bereiche der Baustelle, Hochbau, Tischler, Installateure mussten Lochkarten stanzen, die dann einmal in der Woche, Donnerstag Abends dem Computer gefüttert worden sind, der dann Freitag früh die Arbeits- und Materialbeschaffungspläne für die nächste Woche ausgespuckt hat.

OT Lawner Lochkarten, um Computer zu füttern

Mod.: …. Und es hat geklappt. Am 13. April 1972 konnte Präsident Allende das fertige Gebäude – das damals UNCTAD III hieß und heute Kulturzentrum ist – sichtbar stolz eröffnen.

OT Allende UNCTAD:

VO: Die Leidenschaft und der Eifer, mit denen ein ganzes Volk dieses Gebäude errichtet hat, sind ein Symbol für die Leidenschaft und den Eifer, mit denen Chile eine neue Menschheit aufbauen will, die Not, Armut und Angst auf diesem und anderen Kontinenten zum Verschwinden bringen wird.

Gleich nach dem Kongress wurde das Gebäude Gabriela Mistral und der Kultur gewidmet, aber nicht lange…

OT Felipe 4 putsch & übersiedelung moneda

VO: 1973 kam es dann zum Militärputsch und dabei wurde unser Regierungssitz, La Moneda bombardiert, sie zerstören das Gebäude und die ganze Militärjunta kommt in dieses Gebäude, sie sperren es rundherum rigoros ab, blockieren alle Zugänge und den öffentlichen Platz davor, benennen es um in Edificio Diego Portales, nach einem der Gründerväter Chiles und richten sich hier für 10 Jahre ein.

Mod.: Miguel Lawner, den Architekten und Wohnbauminister, ereilte das Schicksal der meisten Allende Vertrauten: er wurde schon am Tag nach dem Putsch verhaftet, mißhandelt und dann ins Konzentrationslager auf der patagonischen Insel Dawson gebracht.

Nach der Diktatur brauchte das Gebäude lange, um das Image des Hortes alles Bösen wieder loszuwerden und nach einem Brand, der 2006 einen beachtlichen Teil des Gebäudes vernichtet hat, kam kaum Trauer auf.

2010 ist das GAM dann in seiner ursprünglichen Funktion, als öffentliches Kulturzentrum wieder zu neuem Leben erwacht.

ATMO: Sala A2

Mod.: Direktor Felipe Mella, einer der führenden Kulturmanager Chiles führt recht stolz durch die Theatersäle

ATMO akustikprobe und welt unter der bühne

Mod.: Kein billiges Zeug wurde hier hereingestellt. Die Möbel sind hochwertig und gediegen, vieles aus edlen Hölzern, designed bis ins letzte Detail, bis zu den Türgriffen. Das Design ist noch das aus den 1970er Jahren, aber die Technologie, die hier verbaut wurde, ist neu. Die Akustik sensationell. Wir machen eine Probe: Peter Waldenberger steht mit Aufnahmegerät und Mikro in der 12 Reihe, Felipe Mella und ich gehen auf die Bühne….

ATMO Tonprobe aus 12. Reihe

Mod.: Neben diversen Ausstellungs- und Theaterräumen wie diesen hier ….. gibt es noch ein Aufnahmestudio, Proberäume für das Staatsballett, ein Café, ein Restaurant, Gallerien, eine Buchhandlung und eine Bibliothek…...

ATMO bibliothek

VO: Man kann hier einfach so herkommen. Die Bibliothek wird gern als Co-working Space benutzt. Der Fokus der Bibliothek liegt auf den szenischen Künsten, Theater, Zirkus, Tanz,  aber es gibt auch Bücher zu bildender Kunst, Architektur und Design. Und es gibt eine Bibliothek für Kinder mit Veranstaltungen am Wochenende….

Mod.: Seit der Pandemie wird hier auch geimpft und während der sozialen Revolte 2019 war das GAM Nachrichtenzentrum für die Protestierenden, Anlaufstelle für Gewaltopfer und Erste Hilfe Station. Während sich gegen andere institutionelle Gebäude die Wut der Demonstranten entlud, blieb das GAM heil und schaut wohl weiterhin einer aufregenden Zukunft entgegen. Dort mitten in der Stadt, an der Avenida Alameda …..oder wie schon Salvador Allende zu seinem Architekten gesagt hat:

OT Lawner alameda vea todo el mundo

VO: Sehr gut, an der Alameda – damit die ganze Welt es sehen kann!!

 

 

 

Cristina Huidobro Santiagos Chief heat officer

Einmod.:

Auch in Santiago wird es immer öfter immer heisser. Im Großraum Santiago mit seinen 52 Kommunen, leben 90% der 8 Millionen Einwohner im innerstädtischen Bereich. Mehr Beton, mehr Asphalt, weniger Grün bedeutet extremere Hitze. Und in welchem Teil der Stadt, demGarten- und Baumreichen Osten oder dem Asphalt und Betonreichen Süden, Westen und Norden – bei denen, die nur die Hinterseite der Heiligen am Berg sehen, spürt man sie stärker, glauben Sie?

OT Cristina calor democratico 1

Mod.: Die Hitze an sich ist demokratisch, konstatiert die Urbanistin Cristina Huidobro in ihrem Büro in der Regionalverwaltung von Santiago im Zentrum der Stadt, und man spürt schon das große ABER …..

OT Cristina calor democratico 2

VO: Die Sache ist so, es hat in der ganzen Stadt, sagen wir plus minus 32 Grad, aber dann gibt es „Hitzeinseln“, wo die Temperatur 2-10 Grad höher sein kann und das hängt von der Umgebung ab und ist dann schon weniger demokratisch. Ich habe zum Beispiel in meiner Wohnung 10 Grad mehr, weil mein Haus keine Isolierung hat, ich habe ein Blechdach, was hauptsächlich in den Armenvierteln und bei Sozialwohnungen der Fall ist. Es gibt keine Bäume oder andere grüne Infrastruktur in der Nähe, es gibt viel Asphalt, der die Hitze auch in der Nacht speichert. Hitzeinseln sind ein Phänomen, das wir geschaffen haben, also etwas, wodurch wir den Klimawandel noch stärker spüren. Und wie immer betrifft dieses Phänomen hauptsächlich die vulnerabelsten Bevölkerungsschichten in der Region.

Mod.: Cristina Huidobro ist Beauftragte für extreme Hitze im Rahmens des Chief Heat Officer Programms der Arsht-Rockefeller-Stiftung. Derzeit eine von 7 Stadtplanerinnen weltweit, die in Miami, Los Angeles, Freetown, Athen, Monterrey und Melbourne forschen, wie man Städte und ihre Bewohner fit machen kann für die Herausforderung des Klimawandels. Man tauscht Daten aus und lernt voneinander. Man sagt in Santiago zwar schon immer: me muero de calor – ich sterbe vor Hitze, aber, dass das jetzt  tatsächlich immer öfter vorkommt, ist noch nicht eingesickert ins kollektive Bewußtsein. Deshalb ist Bewußtseinsbildung in der Bevölkerung und im Gesundheitswesen der erste Schritt, dann kommt aber schon: Bäume setzen.

OT Cristina Bäume pflanzen !!

VO: Wir haben gerade eine Finanzierung von 2 Millionen Dollar für das Pflanzen von Bäumen in der Region freigegeben. Das ist ein Pilotprojekt: wir pflanzen Bäume, wo man sie normalerweise nicht pflanzt – in den Straßen, wo sie schwer überleben, aber wichtig sind. Wir pflanzen schon die ganze Zeit Bäume in Santiago, aber üblicherweise in Grünzonen, auf den Plätzen, in den Parks, auf den Hügeln. Was mich aber beunruhigt, auch wenn ich mir andere Städte anschaue und mir das Leben in der Zukunft vorstelle, ist, dass wir in den Städten werden leben müssen. Wir müssen hinausgehen zum Einkaufen, für Erledigungen, hier ins Zentrum kommen, und gerade diese Stadtteile werden sehr heiß. Die einzige Möglichkeit, uns weiterhin im Sommer draussen aufhalten zu können, und die Geschäfte weiterhin florieren, ist, in Einkaufsstrassen und in unseren Vierteln Bäume zu haben.

OT Cristina Wohnungsnot versus Naturschutz humedales

VO: Und dann glaube ich, dass die Stadtplanung eine sehr wichtige Rolle hat, in dem sie Regeln aufstellt, die irgendwie unseren Grünraum schützen. Wir haben vor einigen Jahren ein Gesetz verabschiedet, dass die städtischen Feuchtgebiete vor der Verbauung durch die Immobilienindustrie bewahren soll. Das ist aber ein komplexes Problem, weil wir gleichzeitig auch eine drastische Wohnungsnot haben. Wir brauchen 500.000 Wohnungen mehr. Der Wohnbausektor hat sich gerade zu Wort gemeldet und gesagt, wie sollen wir den Grünraum bewahren, wenn wir so viele Wohnungen brauchen? Ich finde, wir haben einen Punkt erreicht, an dem wir keine Wahl mehr haben.

Wir müssen das Modell der Stadt verändern.   Wir können nicht mehr weiter ins Umland hinauswachsen, was in vielen südamerikanischen Städten passiert, wachsen, wachsen, wachsen …, wenn wir viele Möglichkeiten haben, die Stadt im Inneren zu verdichten. Und wenn ich verdichten sage, meine ich keine Wohntürme mit 30-50 Stockwerken, sondern die Gegenden mit einer Bebauung von 1-2 Stockwerken aufzustocken auf 6-12 Stockwerke. Das würde helfen, das verbleibende Grün freizuhalten, unsere landwirtschaftlichen Flächen weiterhin nutzen zu können und die Biodiversität rund um Santiago zu bewahren.

OT Cristina gota de agua oro

VO: Wir können unsere Städte nicht weiter versiegeln, weil jeder Tropfen Wasser dann auf Asfalt fällt und nicht ins Grundwasser kommt. Heute nach 3 Jahren extremer Trockenheit ist jeder Tropfen Wasser Gold!!

OT Cristina arbolitos + wirtschaft (1)

VO: Santiago kann es schaffen, eine sehr grüne Stadt zu werden, in der die grüne Infrastruktur eine große Rolle spielt und nicht nur das Bäumchen ist, das man da pflanzt, sondern zu einem wichtigen Teil, zu einem asset der Stadt wird und auch wirtschaftliche Vorteile bringt. Viele Leute glauben noch immer, dass investieren in grüne Infrastruktur oder Bäume eine rein umwelttechnische Sache ist. Dabei sagen alle wirtschaftlichen Studien, dass der ökonomische Schaden enorm ist, wenn wir nicht auf unsere Umewlt und unser Klima aufpassen. Die Arsht-Rockerfeller Foundation, die uns Chief Heat Officers unterstützt, hat in einer Studie herausgefunden, dass die wirtschaftlichen Verluste aufgrund extremer Hitze pro Jahr viele Millionen Dollar ausmachen.

OT Cristina visionen + optimismus, regierung

VO: Aber ich bin trotzdem sehr optimistisch, auch, wenn ich glaube, dass wir spät dran sind. Man kann auch nicht in diesem Bereich arbeiten, ohne optimistisch zu sein. Wir brauchen Optimismus und wir müssen gemeinsam an dieser Vision arbeiten, damit wir diese Agenda mit Energie weitertreiben können. Es gibt schon eine große Sensibilität, was den Klimawandel betrifft, bei den zuständigen Behörden, von unserer Regionalregierung, bis zur Bürgermeisterin von Santiago und auch der Bundesregierung, die sich als grüne Regierung deklariert. Es gibt also die Hoffnung, dass Entscheidungen getroffen werden, die unser Programm dem Klimawandel entgegenzuwirken, unterstützen.