Diagonal über Milo Rau und Zeitgenoss/innen. Bühne und Aktivismus

Die dabei entstandenen Stücke werden dann im jeweiligen Land und in Europa aufgeführt. Wenn Menschen – Schauspieler und Laien – nicht einreisen dürfen, weil im Irak, in Syrien oder im Kongo daheim, holt sie Rau per Video auf die Bühne. Die Wirkung ist trotzdem stark und provoziert, was Fernsehbilder längst nicht mehr auslösen: Empathie, Betroffenheit, den Wunsch, zu handeln. Milo Rau steht mit dieser Art von Kunst und Aktivismus nicht alleine da. Theaterberserker Christoph Schlingensief stand da Pate. In der staatstragenden „Fidelio“ Inszenierung heuer zum 250. Geburtstag von Beethoven in Bonn thematisiert Volker Lösch die aktuelle Problematik der Kurden in der Türkei und lässt Menschen auftreten, die Menschenrechtsverletzungen am eigenen Leib zu spüren bekommen haben. Das schafft Brisanz und Authentizität. Milo Raus Stücke haben auch im wirklichen Leben schon zum Rücktritt korrupter Politiker geführt. Die Kunst kommt bei der Verflechtung von verschiedensten Zeit- und Wirklichkeits- und Erzählebenen trotzdem nicht zu kurz. Geht so Theater im Jahr 2020?

 

Bühne und Aktivismus. Diagonal über Milo Rau und Zeitgenoss/innen.

Moderation: Ines Mitterer                           Regie: Roman Tschiedl

21.11.2020

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Sign.: ev. ATMO aussen Rau

OT Rau /  Gerechtigkeit ist Grundinstinkt für Anfang  1

Mod.: Man kennt das: Rechtsempfinden und der Verlauf von Gerichtsverfahren stimmen oft nicht überein.

OT Rau / keinen Frieden für Anfang 2

Mod.: Viele Vergehen bleiben ungesühnt. Aber, was hat das mit einem Mann des Theaters, des Films, der Aktion und Dokumentation wie Milo Rau zu tun? Ah! da kommt die Erklärung …

OT Rau / Tragödie für Anfang 3

Mod.: Einerseits! Und andererseits?

OT Rau / Ort der Wahrheit für Anfang 4

Mod.: Ein lichter Ort der Wahrheit, wo man den Menschen zuhört. Milo Rau, Schweizer, Anfang 40, ausgebildeter Soziologe und Romanist, ist seit vielen Jahren schon ein großer Name im zeitgenössischen Bühnengeschehen.

Prozesse in Moskau, ein Tribunal im Dschungel, ein Völkermordradio auf der Bühne, eine Partei zur Einführung des Ausländerstimmrechts – Raus Inszenierungen sind nie nur Fiktion, nicht einmal nur dokumentarische Fiktion, sie spielen tatsächlich mitten im Leben und haben manchmal auch reale Rückwirkungen auf die verhandelten Schicksale und Gesellschaften. Das muss auch so sein. Denn das ist das ein zentraler Punkt der 10 Gebote, die Milo Rau mit seinem Genter Manifest an die Tür zum Bühneneingang geschlagen hat.

Zitat Manifest: GENTER MANIFEST 
Erstens: Es geht nicht mehr nur darum, die Welt darzustellen. Es geht darum, sie zu verändern. Nicht die Darstellung des Realen ist das Ziel, sondern dass die Darstellung selbst real wird. Zweitens: Theater ist kein Produkt, es ist ein Produktionsvorgang. Recherche, Castings, Proben und damit verbundene Debatten müssen öffentlich zugänglich sein. Drittens: Die Autorschaft liegt vollumfänglich bei den an den Proben und der Vorstellung Beteiligten, was auch immer ihre Funktion sein mag – und bei niemandem sonst.

Mod.: …. Diefolgenden 7 Punkte nutzen wir dann als eine Art Leitfaden durch die Sendung.

MK: Bühne und Aktivismus. Diagonal über Milo Rau und Zeitgenossinnen. Heute inszeniert von Ines Mitterer

Mod.: Ja, in der Zeit vor dem letzten Epochenwechsel, hätten Sie jetzt vielleicht angefangen, sich langsam für einen Abend im Theater fertig zu machen. Sie wären hingefahren, hätten Freunde getroffen, gequatscht, den Sitzplatz gesucht, diese besondere Luft eingeatmet, den Blick in die Runde geworfen, kenne ich jemanden, ist da jemand? Seit einigen Tagen schon ist da wieder niemand im Theater. Stille. Stille…..

Das ist unbehaglich und wäre schon wieder ein Fall für Milo Rau. Nicht die leeren Theater, aber das Unbehagen. Er hält es aus, vermeidet es nicht, spielt es beinhart durch, egal ob es um sklavenähnliche Ausbeutung von Erntehelfern in Süditalien geht oder um den Massenmörder Anders Breivik, um das Niederbrennen des Amazonas Regenwaldes oder den IS in Mossul. Und bei ihm ist es nicht ganz so dramatisch, wenn wir jetzt alle nicht rausgehen können ins Theater, denn seine Projekte gibt es meistens auch als Film, als Buch, als Videotalk. Das Inhaltsverzeichnis:

MK: Gerichtsverfahren für Gerechtigkeit

Mod.: Sein Projekt „Das Kongo Tribunal“ nannte der britische Guardian

MK: Zitat Guardian: das ambitionierteste politische Theaterprojekt, das je auf die Bühne kam.

Mod.: In mehr als 20 Jahren hat der Krieg in der Demokratischen Republik Kongo bis heute mehr als 6 Millionen Tote gefordert. Die Bevölkerung leidet unter einem Zustand völliger Straflosigkeit. Die Verbrechen des Krieges, bei dem es um die Kontrolle über wertvolle Rohstoffe geht, wurden nie juristisch verfolgt. Rau inszeniert eine Gerichtsperformance mit vielen der tatsächlich Beteiligten.

OT Rau Kunst schafft diesen Raum für Inhalt

Mod.: Rau hat schon mehrere fiktiver Prozesse geführt, mit erstaunlichen Ergebnissen erzählt Petra Erdmann

MK: Ein neues Evanglium

Mod.: In seinem jüngsten Film, letztlich ja auch eine Art Prozess, besetzt Milo Rau, Jesus mit einem schwarzen Aktivisten. Yvan Sagnet kämpft für die Rechte von Migrantinnen, Erntehelfern und anderen Ausgebeuteten in Süditalien. Linda Klösel hat mit ihm gesprochen.

MK: Die Umtriebigen – eine Familienaufstellung

Mod.: Provokant, politisch, aufklärerisch, mit dem Publikum nicht nur für das Publikum – so arbeitet nicht nur Milo Rau. Judith Hoffmann macht einen prominent besetzten Beitrag über zeitgenössische Artverwandte; mit Schlingensief und Pollesch, Nesterval, Florentina Holzinger, Rimini Protokoll und vielen mehr.

MK: Wirrkopf, Weltenretter, Wichtigtuer

Mod.: Für seine grenzgängerischen Theaterstücke, die sich todsicher nicht am guten Geschmack orientieren, wird Milo Rau gefeiert und verdammt. Dem norwegischen Attentäter Anders Breivik gibt er eine Stimme, weil er glaubt, auch darüber muss geredet werden. Dann wiederum läßt er eine ganze Familie auf der Bühne Selbstsmord begehen oder Kinder über die Gräueltaten des belgischen Kinderschänders und Mörders Marc Dutroux erzählen. Katharina Menhofer über Theaterprovokationen, die einem ganz schön an die realen Nieren gehen.

MK: Kleinrequisiten und Musik

Raus Antigone spricht einen Monolog im Amazonas, Thomas Mießgang entwirft ein kleines Philosophicum, das dem Theatermacher als Unterfutter dient und Erich Klein erzählt, was durch Raus „Moskauer Prozesse“ rund um die Aktivistinnentruppe Pussy Riot wirklich geschah. Die Musik zur Sendung hat Milo Rau selbst gewählt – viel davon kommt in seinen Stücken oder Filmen vor.

MUSIK: Gary Jules: Mad World (Orestes in Mossul)

Mod.: Gary Jules mit “Mad World”. Milo Rau, der Theatermacher, um den es heute über weite Strecken dieser Sendung gehen soll, sieht sie meistens auch so, unsere Welt, verrückt! und er sieht ja auch viel. Im Genter Manifest steht unter Punkt 9

Zitat MANIFEST Mindestens eine Produktion pro Saison muss in einem Krisen- oder Kriegsgebiet ohne kulturelle Infrastruktur geprobt oder aufgeführt werden.

SZENE  Orest in Mossul

Mod.: Vor einigen Jahren hat es Milo Rau und seine Truppe vom Ntgent so in den Irak verschlagen. Das NT im Ntgent steht übrigens nicht für Nationaltheater Gent, wie manchmal angenommen, sondern für „Neederlands Toneel“, was simpel „Niederländisches Theater“ heisst, nichts Staatstragendes also. Ein Monat lang verbrachten Rau und Team im Irak, Mossul, ehemalige Hochburg des IS. Mit im Gepäck: die Orestie des Aischylos – die 2500 Jahre alte Trilogie über Rache und Gewalt im Hause der Artriden. Für die irakischen Schauspieler, mit denen man dort zusammengearbeitet hat, eine fremde Geschichte. Fremd und doch vertraut, weil am eigenen Leib erlebt.

ATMO: hoch

Mod.: Wenn im dritten Teil der Orestie über Orest Gericht gehalten wird und die Göttin Pallas Athene das Bürgergericht einberuft, dann tut das in Milo Raus Produktion die junge Schauspielerin Khitam Idress, deren Ehemann vom IS umgebracht worden ist. Sie ist auf einer Projektion zugeschaltet, wenn das Stück gerade in Wien oder Berlin läuft. Dort sieht man dann auch eine Stadt in Trümmern, Menschen, die alles verloren haben und verwundet sind innerlich und es noch lange bleiben werden. Wie umgehen mit den Tätern – das sei eine zentrale Frage des Stückes, so Rau, die sich in diesem Fall aber nicht so elegant lösen läßt wie bei Aischylos. Sie erinnern sich an die Geschichte:

MK: Zitat Orestie: Agamemnon hat seine Tochter Iphigenie geopfert. Dafür tötet ihn seine Frau Klytaimestra nach seiner Rückkehr aus dem Trojanischen Krieg. Sie und ihr Geliebter Aigisthos werden dafür ihrerseits vom Sohn Orestes getötet. Dieser aber – und das ist neu – wird dafür nicht mit dem Tod bestraft; vielmehr werden die Rachegeister, die Erinnyen, zu Anklägerinnen in einem Gerichtsverfahren. Göttin Athene spricht bei Stimmengleichheit das Urteil: Freispruch! Die Kette von Gewalt und Gegengewalt ist damit durchbrochen.

 

Mod.: Die übergeordnete göttliche Instanz fehlt in dieser Welt.

OT Rau über Mossul für MOD

Mod.: Die antiken Stoffe liegen Milo Rau näher als vieles, was danach auf den Bühnen der Welt geschah. „Klassiker Karaoke“ nennt er das immer wieder Abspielen bekannter Theaterstücke. An der antiken Tragödie aber interessieren ihn die elementaren Fragen, die da verhandelt werden. Wir hätten das tragische Denken verlernt, so Rau einmal in einem Gespräch mit der Wiener Zeitung.

MK: Zitat Wiener Zeitung: Wir haben uns daran gewöhnt, einen Kompromiss für alles zu finden, auch den Weltuntergang zu normalisieren. Aber unsere Lage ist tragisch, nicht bloß dramatisch. Es muss sich etwas Grundsätzliches in der Welt ändern.

Mod.: In dieselbe Kerbe schlägt die indigene Aktivistin Kay Sara aus dem Bundesstaat Amazonas in Brasilien. Sie hätte heuer im Frühjahr die Eröffnungsrede der Wiener Festwochen halten sollen und wäre Milo Raus Antigone gewesen im geplanten Stück „Antigone im Amazonas“. Statt eines Theaterabends gibt es jetzt einen kurzen Monolog. Notiert von Milo Rau.

 

DIGAS: Rede Kay Sara                                                                             6.06                                                                                                                                          

Mod.: Ob sie im kommenden Jahr als „Antigone im Amazonas“ zu sehen sein wird, steht noch in den Seuchensternen. Wir gehen mit Sicherheiten weiter: Arto Lindsay New Yorker mit hohem brasilianischen Anteil wagt ein eigenwilliges Tänzchen: Q Samba.

 

MUSIK: Arto Lindsay „Q Samba”                                                     ca. 3.00                                                                                                        

Mod.: Arto Lindsay mit einem Gruß aus Brasilien. Diagonal heute zum Thema Theater und Aktivismus rund um unseren Protagonisten, Milo Rau.

MK: Genter Manifest 5. Gebot: Mindestens ein Viertel der Probenzeit muss außerhalb eines Theaterraums stattfinden. Als Theaterraum gilt jeder Raum, in dem jemals ein Stück geprobt oder aufgeführt worden ist.

Mod.: Der nächste Schritt führt uns ins Gericht und zwar vorerst einmal in die Demokratische Republikum Kongo. Austragungsort eines entsetzlichen Krieges, der relativ unbemerkt von der Weltöffentlichkeit in den verganenen 20 Jahren Millionen Todesopfer gefordert hat. Viele sehen in dem Konflikt eine der entscheidenden wirtschaftlichen Verteilungsschlachten im Zeitalter der Globalisierung. Im Boden des Ostkongo liegen die  wichtigsten Vorkommen zahlreicher High-Tech-Rohstoffe und alle wollen sie haben: Europäer, Australier, Kanadier, US-Amerikaner, Chinesen … Für Film und Theaterstück „Das Kongo Tribunal“ bringt Milo Rau die Opfer, Täter, Zeugen und Analytiker des Kongokriegs zu einem zivilen Volkstribunal im Ostkongo zusammen. Er lässt erstmals in der Geschichte des Krieges drei Fälle exemplarisch verhandeln und entwirft so ein unverschleiertes Porträt des größten und blutigsten Wirtschaftskriegs der Menschheitsgeschichte. Petra Erdmann über Raus Prozessführung.

DIGAS: Gerichtsverfahren für Gerechtigkeit – Prozessfilme / Erdmann                                                                                                                         9.32

Mod.: Hoffentlich können sie dieser Aufgabe auch bald wieder nachkommen. Florian Malzacher war das in einem Beitrag von Petra Erdmann. Sein Buch „Gesellschaftsspiele – Politisches Theater“ steht auf unserer Seite im Netz bei weiteren Lektüreempfehlungen: oe1.orf.at/diagonal. Begleitet wird diese Sendung von Milo Raus Musikwünschen – lauter Stücke, die er auch schon in einer oder anderen Produktion verwendet hat. Leonard Cohen is next:

MUSIK: Leonard Cohen: Who by Fire                                                                                                                                                                    2.35

Mod.: Leonard Cohen, Who by Fire, eingesetzt von Milo Rau in seinen Stücken „Family“ und „Lenin“ – nur 2 Projekte von insgesamt mehr als 50 Theaterinszenierungen, Filmen, Büchern, Ausstellungen und Aktionen, die Rau in mehr als 30 Ländern realisiert hat. Man erinnere sich, der Mann ist 43 ….. Neben dem Kongo Tribunal, hat Milo Rau mehrere fiktive Prozesse geführt. Bei den Zürcher Prozessen etwa ging es darum zu untersuchen, ob sich die Zeitschrift „Weltwoche“ unter ihrem rechtspopulistischen Chefredakteur Roger Köppel im Sinne des Strafgesetzbuchs in drei Anklagepunkten strafbar gemacht hat: Schreckung der Bevölkerung, Rassendiskriminierung, Verunglimpfung der Justiz. Als Richterin waltete die Verlegerin und Journalistin Anne Rüffer.

Für die Rollen der Anwälte wurden die besten Schweizer Anwälte ihres jeweiligen Fachs verpflichtet. Die Zusammensetzung des Personals soll möglichst objektiv und unparteiisch gewählt werden. Nicht immer bekommt Milo Rau weltanschaulich recht:

OT Rau Zürcher Prozesse für MOD

Mod.: Dann ist es schon gesagt. Bei seinen Moskauer Prozessen, wo drei Fälle rund um Kunst und Kirche verhandelt wurden, berühmtester Fall, die Protest-Girlie-Punkband Pussy Riot, war das Urteil auch nicht so klar. Klar aber war, meint Erich Klein, dass die Truppe rund um Milo Rau, sich zwar bemüht hat, die russische Gemengelage zu verstehen, es ihr aber nicht so wirklich geglückt ist ….

 

DIGAS: Pussy Riot Moskauer Prozesse / Klein                                            6.33                                                                                                  

MUSIK: Jean Philippe Rameau – Nr.3 Allemande II  – Anne Chapelin Dubar         2.22                                                                                             

Mod.: Ein Stück aus Jean Philippe Rameaus Cembalowerken, genauer der Suite in a-moll, Allemande II von Milo Raus Musikliste. Wir ziehen weiter, nach Süditalien. Und untersuchen noch zwei weitere Gebote in Milo Raus Genter Manifest:

Zitat Manifest Sechstens: In jeder Produktion müssen auf der Bühne mindestens zwei verschiedene Sprachen gesprochen werden.

Mod.: und …

Zitat MANIFEST Siebtens: Mindestens zwei der Darsteller, die auf der Bühne zu sehen sind, dürfen keine professionellen Schauspieler sein. Tiere zählen nicht, sind aber willkommen.

Mod.: Es ist immer ziemlich riskant einen „Jesus“ Film machen zu wollen, aber erstens bietet sich das süditalienische Matera, das Milo Rau eingeladen hatte, als Ersatz-Jerusalem quasi auf und zweitens ist Milo Rau bei einer Fahrt durch das Umland aufgefallen, dass es hier genug Stoff gibt, um Jesus wieder einmal als Sozialrevolutionär zu denken.

OT Rau Evangelium

Mod.: Von wegen also – „Christus kam nur bis Eboli“, wie der gleichnamige dokumentarische Roman von Carlo Levi heisst. Der Turiner Arzt, Maler und Schriftsteller setzte damit 1945 der Not der Menschen in der Basilicata ein Denkmal. Die italienischen Faschisten hatten ihn nach Aliano, unweit von Matera in die Verbannung geschickt. Die Provinzhauptstadt Matera galt lange wegen ihrer Armut und Rückständigkeit als „nationale Schande“, weil in den Sassi, den alten Höhlenwohnungen die Menschen, viele landlose Bauern noch im 20. Jahrhundert unter heute kaum noch vorstellbaren Elendsbedingungen hausten. Seit fast 12 000 Jahren leben Menschen in Matera und die Stadt gehört zu den ältesten dauerhaft besiedelten Städten der Welt. Matera ist so alt wie Jericho oder Aleppo. Vielleicht deshalb – die verschachtelten Häuser, die in Tuffstein geschlagenen Grotten, die engen Gassen, steilen Treppen und karg bewachsenen Hügel zeigen eine fast biblische Szenerie – vielleicht deshalb kam Christus dann doch noch nach Matera: in den Verfilmungen von Per Paolo Pasolini, Mel Gibson, und Milo Rau. Linda Klösel über eine Passionsgeschichte aus dem heutigen Süditalien. Ihren Beitrag präsentiert Ursula Scheidle.

 

DIGAS: Evangelium / Klösel                                                                                                 9.41                                                                                                                          

Mod.: Der Film soll Mitte Dezember in die deutschen Kinos kommen, online, man bastelt gerade an der Machbarkeit dieser Art der Verbreitung und vielleicht heisst das ja, dass man ihn sich auch von Österreich aus anschauen kann. Und: eine Langfassung des Interviews in geschriebener Form plus Essay von Linda Klösel gibt es demnächst im Kunstmagazin „VERSION“ nachzulesen. Auch den Link dazu finden sie auf unserer Website, genauso wie die Musikliste dieser Sendung. Da steht jetzt ein italienischer Name – er hat auch einige Songs für „Das neue Evangelium“ beigesteuert: Vinicio Capossela mit einem Ungeheuer im Weizenfeld – la bestia del grano.

 

MUSIK: La bestia del Grano / Vinicio Capossela

 

Mod.: Diagonal heute zum Thema „Bühne und Aktivismus rund um den Schweizer Theatermacher Milo Rau“ und jetzt sind einmal die anderen dran – so eine Pflanze wächst ja nicht im luftleeren Raum.

Oder ohne professionelle Großfamilie, wie meine Kollegin Judith Hoffmann sagen würde.Immersiv und provokant, politisch, aufklärerisch und immer an der Grenze zwischen Kunst und Realität – mit solchen Zuschreibungen schmückt das Feuilleton gern seine Artikel und Rezensionen über Milo Raus Arbeiten. Dieselben Zuschreibungen allerdings könnte man auch in Texten über andere Künstlerinnen und Künstler verwenden, und man tut das auch – zu Florentina Holzinger oder René Pollesch zum Beispiel; über das Trio „Rimini Protokoll“ oder die queere Performancegruppe „Nesterval“. Bei Werkbeschreibungen Christof Schlingensiefs ebenso wie bei einer Annäherung an den Schweizer Theatermacher Boris Nikitin. Allein an der mangelnden Phantasie der Feuilletonistinnen und Feuilletonisten kann das nicht liegen. Wohl eher daran, dass zwischen den Genannten eine unübersehbare geistige, künstlerische und ästhetische Verwandtschaft besteht, findet Judith Hoffmann, und versucht sich im folgenden Beitrag an einer künstlerischen Familienaufstellung.

 

DIGAS: Familienaufstellung: Rau und die anderen / Judith Hoffmann                 11.59                                                                                                                        

Mod.: Alles neu am Wiener Volkstheater; das Haus frisch renoviert und ein neuer Direktor mit vielversprechendem Programm am Werken. Judith Hoffmann war das mit einem Überblick über künstlerische Wahlverwandtschaften rund um Milo Rau. Klaus Nomi, Countertenor, gerne unterwegs in den Gefilden der Popmusik, sang in Raus Stück „Die Wiederholung“ und singt jetzt für uns….

 

MUSIK: Klaus Nomi: Cold Song (La Reprise)

 

Mod.: Diagonal heute eine Theatersendung bei geschlossenen Theatern. Wir haben schon viel gehört heute über Milo Rau und seine aufwendigen Inszenierungen. Aufwendig im Sinne von Arbeitsprozess, nicht im Sinne von Ausstattung, hält man sich doch auch eisern an diesen Punkt des Genter Theatermanifests:

 

Zitat MANIFEST Achtens: Das Gesamtvolumen des Bühnenbilds darf 20 Kubikmeter nicht überschreiten, d.h. eines Lieferwagens, der mit einem normalen Führerschein gefahren werden kann.

 

Mod.: Dutzende Menschen arbeiten da mit, organisiert von Milo Raus Theater- und Filmproduktionsgesellschaft mit dem programmatischen Namen „International Institute of Political Murder“. Macht, Gewalt, Ausbeutung, Hass sind die Themen, die da gerne verhandelt werden. Da hat die subtile und sehr intime Auseinandersetzung mit dem Tod im Sommer 2020 in dem Stück „Everywoman“ bei den Salzburger Festspielen doch sehr überrascht.

 

DIGAS: Everywoman / Mitterer                                                                              7.04                                                                                                                                             

Mod.: erzählt Ursina Lardi, die in einem Rau Stück auch schon einmal Lenin gespielt hat. Dass die Theater gerade alle zu sind, auch das Ntgent, dessen Intendant Milo Rau ist, hält ihn weder vom Arbeiten noch vom Aktivismus ab. Als hätte er gewußt, dass es in diesem Jahr schwierig sein würde mit Körpern auf der Bühne, bespielt er eine Online-Debattenplattform unter dem Titel „School of Resistence“.Da fließt alles ein vom Jesus und Erntehelferfilm „Das neue Evangelium“ bis zur Rede Kay Saras, der indigenen Aktivistin aus dem Amazonas, die wir am Anfang der Sendung gehört haben, bis zur jüngsten Diskussion diese Woche  mit dem Titel:  „Speaking the Truth is not a crime“. Da diskutierten Donnerstag Abend die türkische Juristin, Autorin und Journalistin Ece Temélkuran zusammen mit dem ehemaligen Drohnenprogrammierer und Whistleblower Cian (kìen)Westmoreland und der guatemaltekischen Menschenrechtsanwältin und Aktivistin Renata Ávila. Alle zwei Wochen gibt’s eine neue Lektion in der „School of Resistence“, zu finden im Netz. Neil Young hat sich derweil in Position gebracht ….

 

MUSIK: Neil Young: Cortez the Killer (Everywoman)    steigen erst bei 3.20 ca ein – bis dahin nur instr. ca. 2.30 insges.

 

Mod.: Cortez the Killer, Neil Young. Der Song begleitete das Sterben von Everywoman bei den Salzburger Festspielen 2020. In allen Lebensläufen von Milo Rau kommt vor, dass er bei Pierre Bordieu studiert hätte; er selbst sagt, er hat Gastvorlesungen bei ihm besucht. Die haben sich ordentlich eingeschrieben in sein Werk. Was sonst noch geschah, skizziert Thomas Mießgang in einem kleinen Philosophicum.

 

DIGAS: Kleines Philosophicum / Mießgang                                                9.51                                                                                                                                                  

Mod.: Billie Eilish The party is over am Ende dieser Einführung in die Philosophie Milo Raus von Thomas Mießgang. Nirvana ist schon angeklungen, als von Hateradio die Rede war, dem Hassradio, das Milo Rau auf die Bühne gebracht hat. Hier geht’s weiter:

MUSIK: Nirvana: Rape me

Mod.: Nirvana Rape me.

MK:  Wirrkopf, Weltenretter, Wichtigtuer, Theaterextremist, Skandalregisseur, Provokateur …

Mod.: … so lauten einige der Beinamen, die Milo Rau von seinen Kritiker bekommen hat. Jemand, der so arbeitet wie er, so nahe an Grenzen, so weit weg vom Elfenbeinturm, polarisiert naturgemäß. Immer wieder kommt es im Zuge seiner Aufführungen zu öffentlichen Auseinandersetzungen, zu gerichtlichen Nachspielen, zu Verboten seiner Stücke.

Neben seinen ganz explizit politischen Stücken, mit denen Milo Rau die Welt buchstäblich verändern will, gibt es Stücke, bei denen das Motiv nicht so offensichtlich ist. Monströse Verbrechen, Familientragödien, Mord, Gewalt und oft auch Missbrauch spielen darin eine zentrale Rolle. Dazu gehören etwa Breiviks Erklärung, bei dem Rau das Manifest des Osloer Attentäters verlesen ließ, „Five Easy pieces“, in dem Kinder die Taten des belgischen Kindermörders Marc Dutroux nachstellten, „Familie“, ein Stück, das den Selbstmord einer französischen Familie auf die Bühne brachte, oder „La reprise“ über einen homophob-motivierten Mord in Lüttich. Den Laiendarstellern mit denen er dabei oft arbeitet, mutet er einiges zu. Was fasziniert Milo Rau an diesen Geschichten, was sollen sie beim Zuschauer bewirken, welcher Zweck heiligt die drastischen Mittel, gibt es eine Grenze des auf der Bühne Darstellbaren und ist das mediale Getöse mitintendiert, das solche Vorstellungen immer auch begleitet, fragt sich Katharina Menhofer.

 

DIGAS: Tabubrecher / Menhofer

 

Mod.:  Katharina Menhofer mit einem Einblick in Milo Raus kleinen Horrorladen. Im Moment ist der Laden zu wie überall und der letzte Punkt des Genter Theatermanifests, zu dessen Einhaltung sich Milo Rau und sein Ensemble vom Ntgent verpflichtet haben, schwer zu erfüllen … aber, das wird schon wieder!

 

ZITAT Manifest: Zehntens: Jede Inszenierung muss an mindestens 10 Orten in mindestens 3 Ländern gezeigt werden. Vor Erfüllung dieser Zahl darf keine Produktion aus dem Repertoire des NTGent ausscheiden.

 

Mod.: Milo Raus Verpflichtung zur Nachhaltigkeit, gepaart mit dem Selbstbewußtsein, dass die Inszenierungen es auch immer wert sind …

Das war ein Diagonal zum Thema Theater und Aktion rund um den Theatermann und Filmemacher, Aktivisten und Gerichtsspezialisten Milo Rau. Lektüreempfehlungen, Links und die Musikliste finden Sie bei uns im Netz: oe1.orf.at/diagonal.

MUSIK: Beethoven: 9. Symphony (Mitleid) ev???

 

Signation:

Mod.: Studiotechnik: Christian Gorz, Gerald Domjan und Georg Janser. Mit den Stimmen von Bernhard Fellinger, Michael Köppel, Sibylle Norden, Alexander Rossi und Ursula Scheidle. Im Theater waren für diese Sendung: Petra Erdmann, Erich Klein, Linda Klösel, Judith Hoffmann, Thomas Mießgang und Katharina Menhofer, die diese Sendung mitkonzipiert hat. Regie: Roman Tschiedl. Redaktion und Moderation: Ines Mitterer.