Ai WeiWei über Macht und Ohnmacht

IM: Als wir uns das letzte Mal in Portugal gesehen haben, war die Welt noch ganz anders. Sie haben damals erzählt, wie hart das Leben als politischer Flüchtling sein kann. Wir haben jetzt Millionen mehr Geflüchtete in Europa. Sie hatten gemeinsam mit anderen Künstlern wie Herta Müller und Ian McEwan einen offenen Brief gegen die Möglichkeit eines russischen Angriffs auf die Ukraine geschrieben, Titel: Kein Krieg!! Wie haben Sie jetzt  diese letzten Wochen erlebt?

AWW: Es war natürlich ein Schock, der Krieg war unvorhersehbar. Aber er ist jetzt so real und so nahe. Wir sehen, dass unser friedliches Leben und eine friedliche Ära zu Ende geht.

Es kam so plötzlich und man konnte sich überhaupt nicht vorstellen, dass es in Europa einen Krieg geben würde und so viele Flüchtlinge und viele Tote und das geht jetzt ja noch weiter. Jeder ist in Panik, wirklich jeder auf der ganzen Welt.

Die Welt braucht jetzt eine klare Schlussfolgerung aus dieser Lage: Wir brauchen Frieden. Stopp dem Krieg!! Wo immer auf der Welt: No War!

IM: Wie Europa Geflüchtete behandelt, war für Sie, seit sie 2015 nach Europa gekommen sind, ein wichtiges Thema, das sich auch in ihrer Kunst niederschlägt. Bis vor 3 Wochen war Europa sehr feindselig eingestellt gegenüber Migrantinnen und Geflüchteten. Jetzt hat sich das gewandelt und europäische Länder nehmen die vielen geflüchteten Ukrainer auf – wie bewerten sie das aus ihrer Perspektive?

AWW: Ich sehe dass das Thema der Flucht alle angeht, egal, wo auf dieser Welt man ist, egal, welche politischen Ansichten man hat, oder welche religiöse Überzeugungen. Du bist derjenige, der gezwungen wird, dein Land zu verlassen. Jetzt, da es so viele Geflüchtete in Europa gibt, gibt es vielleicht auch mehr Bewußtsein für ihre Lage, Bewußtsein dafür, was es bedeutet, Menschlichkeit walten zu lassen. Es geht nicht um jemanden, der sein Zuhause verloren hat, es geht um alle, die ein Zuhause haben und ihre Menschlichkeit verloren haben, menschliches Urteilsvermögen, menschliche Werte und Freiheit. Wir müssen das hinterfragen, um die Menschlichkeit zu verteidigen.

 

IM: Was sagen Sie zur Rolle Chinas jetzt in dieser gefährlichen Situation. China war eines der wenigen Länder, das den russischen Angriffskrieg in der Ukraine nicht verurteilt hat. Aber China hat die wirtschaftlichen und finanziellen Sanktionen des Westens verurteilt. Was hat China vor?

AWW: China hat noch nie die Werte des Westens anerkannt und sie denken immer, der Westen hat das Potential die Stabilität des chinesischen Kommunismus zu untergraben. China ist in einer sehr heiklen Situation: soll es die Invasion, den Krieg unterstützen, anschauen, wie Menschen leiden, ihr Leben verlieren. China muss klar sein, welche Werte es vertritt, um sich selbst zu verteidigen. Es geht nicht um Russland, es geht um China selbst. Das ist eine sehr schwierige Situation.  

IM: Sie haben das in ihrer Kindheit und Jugend erlebt, wenn Mächtige sich völlig irrational verhalten. Ihr Vater war ein berühmter Dichter, anfangs im Zentrum der Macht – er hat Mao persönlich gekannt – aber er ist dann in Ungnade gefallen, musste ins Exil, öffentliche Toiletten putzen, um später wieder rehabilitiert zu werden. Was haben Sie dabei über die Irrationalität von Macht gelernt und wie kann man damit leben?

AWW: Die Natur der Macht liegt darin, dass sie weiterbestehen will, das System der Macht zu schützen. Das ist ein Naturgesetz. In einem autoritären Staat werden dafür die Möglichkeiten und Freiheiten aller beschnitten, die das in Frage stellen. Da gibt es dann keine individuellen Rechte oder Menschenrechte. Nicht einmal die Idee davon gibt es. Da gibt es keine Möglichkeiten, das zu ändern, denn wenn du es änderst, würden die Mächtigen verschwinden. Also tun sie alles, dass das nicht passiert und sie werden dich zum Verschwinden bringen.

IM: Und es ist schwierig vorherzusehen, wie man sich verhalten soll.

Es ist unmöglich auch nur zur erahnen, geschweige denn zu wissen. Sie ändern ja auch die ganze Zeit ihre Politik und Vorgehensweise.

IM: In Russland gibt es derzeit viele Künstler, Journalisten, aber auch einfach Bürger, die in der gleichen Situation sind, wie Sie in ihren letzten Jahren in China waren. Sie werden zum Schweigen gebracht, dürfen nicht protestieren, nicht zu Demos gehen und sagen: wir wollen keinen Krieg, weil sie so ihre Verhaftung riskieren. Ist das das Ende jedes Widerstandes?

AWW: Ich würde nicht sagen, dass das das Ende des Widerstandes ist, aber man schafft so eine enorme Barriere. Sie können dich so leicht zum Verschwinden bringen. Der Krieg bleibt aber Realität. Das ist grausam. Und man verliert so, unterdrückt nicht nur die menschliche Würde, sondern das Leben selbst.

IM: Viele von denen, die jetzt in Russland noch immer auf die Strasse gehen und protestieren, sind Künstler, Intellektuell, Journalisten. Glauben Sie, dass die Kunst ein geeignetes Werkzeug ist, dem Terror, der Brutalität, dem Krieg etwas entgegenzusetzen?

AWW: Kunst gibt immer ultimative Lösungen in Fragen der Menschheit. Das kann weder die Wissenschaft noch Ideologien, nur die Kunst. Weil Kunst immer alle betrifft.

IM: Sie proben jetzt gerade in Rom die Oper „Turandot“ – in wenigen Tagen ist Premiere. Sie inszenieren – die Ukrainerin Oksana Lyniv dirigiert. Hat der Krieg, die gegenwärtige Situation ihre Arbeit beeinflusst?

AWW: In diesem Moment muss man was immer man macht, hinterfragen  und in Beziehung setzen zu dem, was jetzt gerade geschieht. Moralisch ebenso wie philosophisch. Man muss sich ständig fragen, was passiert mit uns, ,mit  unserer Menschheit?

Oksana Lyniv bewundere ich sehr. Mit einer unkrainischen Künstlerin wie ihr jetzt zu arbeiten, bedeutet mir sehr viel.

Sie öffnet mir noch mehr die Augen für die Tragik, die die Menschen in der Ukraine und die das Land selbst gerade erleben.

IM: Beeinflussen diese fürchterlichen Ereignisse auch die Form, in die Sie das Stück jetzt gerade gießen?

AWW: Man könnte fast sagen: zum Glück – oder besser: zufällig haben wir uns bei der Inszenierung von Anfang an auf Krieg und Flüchtlinge fokussiert, auf den Zustand der Menschheit, die Pandemie – auch auf die Aufstände in Hongkong der letzten Jahre fokussiert.

Wir haben zahlreiche Video-Ausschnitte und Stimmen dazu. Das, was jetzt passiert, entspricht ziemlich genau dem, was wir für die Aufführung geplant haben. Wir mussten am Konzept überhaupt nichts ändern.

IM: Wir sind hier in der Mitte Europas – die Europäische Union wurde dereinst als ein Friedensprojekt ins LEben gerufen. Glauben Sie, dass der Krieg in der Ukraine das jetzt für immer verändert?

AWW: Ich glaube, nach diesem Krieg – oder eigentlich schon während dieses Krieges muss Europa sich darüber klar werden, welche Illusionen es sich gemacht hat. Über den Frieden – über die Freiheit – auch über die Demokratie. Alles muss neu bewertet, neu gedacht, neu aufgesetzt werden – sonst wird es diese schrecklichen Ereignisse wieder und wieder geben!