Diagonal goes wild. Zum Thema: Wildnis

Dabei steigt die Sehnsucht nach ungezähmter Natur gerade im 24/7 Bildschirmzeitalter. Als Gegenentwurf zum virtuellen Dasein, das nur einen Sinn bedient und die anderen verkümmern lässt, als Herausforderung für eine Gesellschaft, deren Kontrollwahn ins Grenzenlose geht, als ökologische Antwort auf die Zerstörung des Planeten durch den gierigen Zugriff des Menschen.

Der britische Journalist und Autor George Monbiot schlägt daher einen Rückverwilderungsprozess vor, von Landstrichen und Meeresabschnitten, die nicht direkt für die Versorgung der Menschheit mit Nahrung notwendig sind, aber auch vom menschlichen Leben. Zum Wohle von beiden, die das „Wilde Denken“ indigener Völker immer schon als eines wahrgenommen haben: Mensch und Natur.

 

Diagonal goes wild. Zum Thema: Wildnis

16.10.2021

Moderation: Ines Mitterer Regie: MC Messinger + Andrea Hauer

Sign.

ANFANG aus DIGAS Filmausschnitt Into the Wild + ATMOS

ATMO: Wildnis für Anfang

Mod.: Laute wie diese machen auf: das Herz weit, den Kopf frei.

Wildnis, Weite, Luft zum Atmen, Freiheit. Sehnsüchte nach der „reinen“ Natur, dem Ausbruch aus einer bis in den letzten Winkel definierten modernen Existenz, hin zum Echten, Wahren, Unkorrumpierten. Das ist romantisch, wie Chris McCandless, dessen Gedanken wir gerade gehört haben. Das war der junge Mann, der in den 1990er Jahren in die Wälder Alaskas aufgebrochen ist, um sich selbst zu finden. Die Wildnis ist nicht romantisch und Chris hatte sich überschätzt. Mehr dazu im Laufe der Sendung – mit diesem Cliffhanger gleich am Anfang. Augen zu, Ohren auf – mit uns geht es heute ganz weit weg ….

MK: Diagonal goes wild. Zum Thema: Wildnis, präsentiert von Ines Mitterer

Mod.: Und jetzt gleich das Diagonal Rätsel: Was glauben Sie, wieviel Prozent unserer Wälder hier in Österreich sind als „echter Urwald“ klassifiziert?  Sind das a) 3,57% oder b) 1,04% oder c) 0,03%? Ein echter Urwald ist ein Wald, der nie bewirtschaftet wurde, der nie eine Axt gesehen hat, wo abgestorbene Bäume nicht weggeräumt und Wild nicht gejagt wird … Sie ahnen es schon. Die Antwort kommt von einem Ranger aus dem Wildnisgebiet Dürrenstein, von einem Erklärvideo im neuen Haus der Wildnis in Lunz am See:

OT Ranger für Anfang

Mod.: Große Sehnsucht. Kleine Fläche. 0,03% – das ist quasi nur der Urwald Rothwald im Herzen des Wildnisgebietes Dürrenstein an der Grenze von Niederösterreich und Steiermark. 400 Hektar. In große und kleine Wildnisse, nahe und ferne entführen wir sie heute akustisch, nach Kamtschatka, Allentsteig und Santa Barbara de Arichuna:

Zitat Humboldt für Anfang

Mod.: über ATMO Schwanzerl drüber:

Wir sind unterwegs mit Alexander von Humboldt, Chris McCandless, Nastassja Martin, mit Wölfen, Bären und Habichtskäuzen, unter vielen anderen. Das Inhaltsverzeichnis:

MK: Rote Listen und tote Schafe

Mod.: Viele der wilden Tiere in Österreich sind ausgestorben oder gezähmt. Mangels Futter und Lebensraum gibt es kaum noch: Luchse, Seeadler, Wildbienen, Schwarzspechte, Große Mausohren – eine Fledermausart – , Ziesel oder Großtrappen ….. Der Wolf stand auch lange auf dieser Liste, hat sich in den vergangenen Jahren aber wieder Terrain erobert. Manchmal bei den Weidetieren auf der Alm. Dominique Gromes ist mit der Frage nach dem für und wider von Rückverwilderungsprojekten mit den Wölfen unterwegs.

MK: Einöde, Wüste, Gebirge, Wald ….

Mod.: Die Wildnis ist das Eine. Unser Bild davon, das andere. Und, weil wir gerade beim Anderen sind, kann man feststellen: die „Wilden“ sind auch immer die anderen. Das hat irgendetwas mit dem Verstehen oder Nichtverstehen von herrschenden Ordnungen zu tun. Nach eingehenden Recherchen von Petrarca über Humboldt bis Levi-Strauss stellt Erich Klein fest: die Wilden, das sind ja wir!!

MK: Wo sich Alpensalamander und Steinadler gute Nacht sagen

Mod.: Im einzigen heimischen „Strengen Naturresaervat der Kategorie 1a der International Union for Conservation of Nature and Natural Ressources“, dem letzten Urwaldgebiet Mitteleuropas, im Rothwald des Wildnisgebietes Dürrenstein, kann man studieren, was ist, wenn der Mensch nicht eingreift. Totholz, Borkenkäfer, Pilze, von Gestrüpp aufgestaute Bäche …. Jahrhunderte alte Bäume und viel Getier. Es geht ziemlich gut und die Artenvielfalt ist erstaunlich. Ein Ausflug in Begleitung der Rangerin Nina Schönemann.

MK: Sein wie das Raubtier

Mod.: Die Zivilisation hinter sich lassen, die Auseinandersetzung mit der Natur suchen, wieder bewußt zur eigenen Natur zurückkehren, nur sich selbst spüren, die eigenen Kräfte, Stille, Einsamkeit – Lieblingsvokabel derer, die in die Wälder Alaskas eintauchen, in die sibirische Steppe aufbrechen oder die ungastlichen Berge Schottlands erklimmen. Und darüber dann Bücher schreiben. Nicole Dietrich ist mit ihnen gereist. Auf dem Papier.

MK: Und hinter tausend Stäben keine Welt

Mod.: Der Zoo ist ein Widerspruch. Wilde Tiere hinter Absperrungen. Metallstäbe, Betonbecken, nachgebaute Biosphären, mehr oder weniger naturähnlich. Und trotzdem wichtig für die Anschauung. Die einzige Möglichkeit, diese Tiere „in echt“ zu sehen. Über die verschieden Arten, darunter auch die lustige namens Mensch, hat Horst Widmer im Zoo von Chisinau in Moldawien eingehend nachgedacht.

MK: Kleinmöbel und Musik

Mod.: Zitate und Laute aus verschiedensten Weltgegenden durchziehen die Sendung und die Musik gibt alles von sehnsuchtsvoll bis kritisch und ganz wild. In Diagonals Feinem Musiksalon gegen dreiviertel Sieben präsentiert Thomas Mießgang das jüngste Projekt des kanadischen Jazzensembles Badbadnotgood: es heisst „Talk Memory.

Und wir müssen nicht weit gehen, um unser erstes Musikstück zu finden…..

MUSIK: Kreisky / Wildnis

Mod.: „Wildnis“ heisst der Track von Kreisky (der Band!)

MUSIK: hoch Kreisky / Wildnis vorl 5“ ausspielen bis 4.40 dann langsam ausfaden

Mod.: Jetzt wissen wir, was Kreisky – die in Wien beheimatete Band – von unserem Thema heute hält. Diagonal goes wild. Zum Thema: Wildnis. Der wilde Wolf – hierzulande fast ausgestorben, macht in letzter Zeit Schlagzeilen. Nach einhundert Jahren der Abwesenheit gibt es jetzt wieder Tiere dieser Art und sie verhalten sich entsprechend. Jagen, was sie so jagen können. Wenn genug Wild da ist: Wild, wenn nicht, auch einmal Schafe. Die Sorge der einen gilt ihren Nutztieren, die Sorge der anderen dem Wildtierbestand. Schießen oder nicht schießen? Dominique Gromes ist der Frage nachgegangen.

DIGAS: Wolf / Gromes​​​​​​​11.43

Mod.: Dominique Gromes über zahme Menschen und wilde Wölfe. Diagonal heute zum Thema Wildnis. Tricky ist jetzt dran und packt seine „Tribal Drums“ aus. Mithilfe von Francesca Belmontes Stimme, den Drums und seinen dahingeraunten Vocals im Hintergrund läßt der Brite Dschungelgefühle aufkommen…..

MUSIK Tricky – Tribal Drums  bei 2.45 langsam weg

Mod.: Tricky wieder wohlbehalten zurück aus dem Urwald. Von dem wir hier in Europa nur mehr sehr wenig haben …. Dass es aber wichtig wäre, Landstriche wieder verwildern zu lassen, dafür plädieren Naturschützer, Wildbiologen und Autoren wie der Brite Georges Monbiot. Der Aktivist und Schreiber aus begütertem Haus – Großvater und Vater waren Parlamentarier der Konservativen, war schon als investigativer Journalist bei den großen Staudammprojekten im brasilianischen Amazonasgebiet unterwegs, recherchierte über Umweltzerstörung in Ostafrika oder Westneuguinea, wurde wegen seiner kritischen Berichtertattung in einigen Ländern zur „persona non grata“  erklärt und in Indonesien in Abwesenheit zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Da er die Realität kennt, liegt ihm jegliche Wildnisromantik fern, trotzdem plädiert er in seinem jüngsten Buch für „Verwilderung“. Rückverwilderung:

Zitat Monbiot 1

Mod.: Georges Monbiot geht es nicht um die Schaffung von Naturidyllen und er will auchkein landwirtschaftlich genutztes Gebiet rückverwildern – auch da liegt ihm jede Romantik fern. Intensive Landwirtschaft, brauchen wir zum Überleben. Aber andere Gebiete, Randzonen, Zwischenbereiche, verlassene Landstriche, da ja, da soll man wieder Vielfalt entstehen lassen.

Zitat Monbiot 2

Mod.: Und nachdem wir zur Natur gehören, erträumt sich der Autor und Aktivist auch mehr Unvorhersehbarkeit in unserem Leben. In seinem Buch „Verwildert“ schildert er, wie er an der walisischen Küste neben Delfinen Kajak fährt oder durch Osteuropa wandert, wo Luchse und Wölfe ihre Jagdgründe wieder für sich beanspruchen, er verliert sich in den Wäldern Sloweniens und spielt verstecken mit den Wildschweinen im schottischen Hochland. Größere Abenteuer als sich 3 mal am Tag zu überlegen, wie der Geschirrspüler wohl am besten einzuräumen wäre ….. Dabei ist ihm übrigens die Idee zum Buch gekommen.

Zitat Monbiot 3

M: Nothing but Flowers / Talking Heads​​Vorl 0.32  beginnt bei 0.44 zu singen

Mod.: Die Wildnis in der unmittelbaren Umgebung. George Monbiots Buch heisst: „Verwildert“ und steht mit zahlreichen anderen Lektürehinweisen auf unserer Website: oe1.orf.at/diagonal.

Ein gelungenes Rückverwilderungsprojekt Wiesen statt Einkaufszentren, Oasen statt Parkplätzen und Gänseblümchen statt Pizzahuts skizzieren hier die Talking Heads….. you got it 😉

M: Nothing but Flowers / Talking Heads

Mod.: Mehr Garten Eden und Paradies denn herausfordernde, gefährliche Rauheit – die Talking Heads mit ihrer Variante von Wildnis. Nothing but Flowers. Das Bild von und die Einstellung zur Wildnis variiert von Epoche zu Epoche, von Kultur zu Kultur. Einmal sind die einen die Wilden, einmal die anderen – scheint ja doch zu unserer menschlichen Natur zu gehören. Erich Klein beginnt mit dem Europäer Francesco Petrarca.

DIGAS: Kulturgeschichte Wildnis / Klein​​​​​16.43

Mod.: ….. auch manchmal ein wildes Wesen! Erich Klein mit einem Ritt durch die Kulturgeschichte des Blickes auf die Wildheit – heute: Diagonal goes wild – zum Thema: Wildnis.

MUSIK: Egberto Gismonti + Nana Vasconcelos / Dança das Cabeça​​​4.00

Mod.: Wir bleiben im südländischen Wildnisvibe – wobei auffällig ist, dass sich die zeitgenössischen Wildnissucher beinahe ausschließlich Richtung Norden aufmachen: Sibirien, Alaska und nicht in den tropischen Urwald. Vielleicht ist für uns, zumindest technisch und technologisch Zivilierte, die Kälte leichter zu ertragen als die Feuchtigkeit und Hitze mit dem Getier, das dazu gehört. Wer ständig mögliche Malariaüberträger erschlagen oder giftigen Schlangen ausweichen muss, kann sich schlecht auf sich und seine Sinnsuche konzentrieren.

Und wir sind jetzt schon mittendrin und zudem völlig gefahrlos, im amazonischen Urwald mit einer Nummer, die Erich Klein schon angespielt hat: Dança das Cabeças – der Tanz der Köpfe: Egberto Gismonti mit Nana Vasconcelos.

MUSIK: Egberto Gismonti + Nana Vasconcelos / Dança das Cabeças hoch

Mod.: Vom brasilianischen zum heimischen Urwald, jetzt. Bei niedriger Temperatur aber ähnlich hoher Luftfeuchtigkeit….

DIGAS: Dürrenstein / Mitterer​​​​​​​14.21 (Wortende 14.03)

M: Walk Unafraid / First Aid Kit​​​​​​​bei 2.38 langsam raus

Mod.: Walk unafraid – ein Song von REM, interpretiert von den beiden Schwedinnen von First Aid Kit für den Soundtrack für den Film: „Der große Trip. Wild“. Der Film mit Reese Witherspoon in der Hauptrolle folgt Erfahrungen der US-Amerikanerin Cheryl Strayed, die sie in ihrem Bestseller: „Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst“ niederschrieb. Nach dem Tod ihrer Mutter, der Scheidung von ihrem Mann, Heroinkonsum und sexuellen Ausschweifungen versucht die junge Frau den Neubeginn mit einer Wanderung durch die Wildnis Kaliforniens, Oregons und Washingtons auf dem Weitwanderweg Pacific Crest Trail. Sie hat dieses Abenteuer überlebt. Anders als Chris McCandless, der junge Mann vom Beginn der Sendung, der nach Alaska aufgebrochen war…. Und von dem Nicole Dietrich gleich erzählen wird. Doch zuerst noch ein paar Fragen in die Menge:

Ist die Sehnsucht nach den herrlichen Weiten, der Natur ohne menschliche Einflüsse ein Phänomen des saturierten Westens? Des globalen Nordens? Die vielen Publikationen über Wildniserfahrungen lassen das vermuten. Warum tut man sich das an? Wir reden da ja von echter Wildnis und von Ausflügen, die nicht in den Beserlpark führen, in dem sich ein paar Halme der renaturierten Bienenwiese gegen den englischen Rasen stemmen. Sondern von lebensgefährlichen, unbequemen Zonen, mit Bären und Wölfen, unüberwindbaren Wildbächen, Schneestürmen, Felsklippen, Vulkanen. Was suchen die Menschen dort? Ohne Rückholversicherung. Die Wildnis ruft. Nicole Dietrich macht sich auf den Weg und begegnet Chris McCandless.

DIGAS: Literatur / Dietrich​​​​​​​12.48

Mod.: Wildnis ist überall. Nicole Dietrich war das mit literarischen Feldforschungen. Alle Bücher dieser Sendung, sowie Trackliste und Links finden sie auf unserer Website oe1.orf.at/diagonal, auf dass sie Ihnen Orientierung geben mögen!! Die Musik aus dem grimmigen Norden Sibiriens lässt die Wildnis unter die Haut gehen, vor allem, wenn Stepanida Borisova singt. Eine Musikerin und Performerin aus Yakutien mit „Wild Shaman Music“, wie es im Beipackzettel heisst.

M: Wild Shaman Music / Stepanida Borisova

Mod.: Schamanenmusik aufgenommen im unwirtlichen Norden Russlands. Früher hat auch das Land zur Sowjetunion gehört, in das Horst Widmer vor kurzem aufgebrochen ist: Moldawien. Dort in der Hauptstadt Chisinau gibt es einen Zoo – diese widersprüchliche Einrichtung, die wilde Tiere in der Gefangenschaft zeigt, zum Lust- und Erkenntnisgewinn. Manchmal kommt man dabei gar nicht umhin, auch so manches über unsere zweibeinigen Artgenossinnen zu lernen. Horst Widmer aus dem Wilden Osten.

DIGAS: Zoo Chisinau / Widmer​​​​​​​​11:41

Mod.: Horst Widmer zu Besuch im Zoo von Chisinau und am Ende wieder angekommen im Concrete Jungle – im Betondschungel.

M: Concrete Jungle / Ceu Vorl. 0.14

Mod.: drüber: So heisst auch dieses Lied.

Mod.: Ceu, Superstar aus Brasilien, wo es von allem ziemlich viel gibt: Betondschungel und (noch!) richtigen Urwald. Diagonal goes wild! Das war eine Sendung zum Thema: Wildnis. Wissenswertes rundherum liefert die Website und wir übergeben nach dem Abspann gleich an Thomas Mießgang in Diagonals Feinem Musiksalon.

Signation: Studiotechnik: Georg Janser, Katharina Ahammer, Gerald Domjan und Harald Landgraf. Gesprochen haben Rafael Schuchter, Katharina Knap und Michael Köppel. Mit Beiträgen von Dominique Gromes, Erich Klein, Nicole Dietrich und Horst Widmer. Regie: Andrea Hauer und Marie-Claire Messinger. Redaktion und Moderation: Ines Mitterer