Latifah Echakhch

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IM: Latifa erzählen Sie mir bitte über die Ausstellung, die Sie im Linzer lentos eingerichtet haben. Sie heisst „Neustart“ – hatten Sie das Gefühl, so ein Neustart war notwendig?

Latifa Echakhch: Ich denke wirklich, dass man für jede neue Ausstellung einen „Neustart“ machen muss. Es ist wie beim weissen Blatt Papier – ich habe einen weissen Raum zu füllen, mit neuen Installationen, einer neuen Ausstellungen, neuen Dingen, die ich zeigen will. DAs ist immer die Aufgabe, die ich mir selber stelle, immer wieder von Null anzufangen. 2.29 Und gerade für diese Ausstellung habe ich mein Konzept einige Male wieder über den Haufen geworfen und neu angefangen. Seit dem letzten Jahr, al sich die Einladung bekommen habe, hatte ich etwas im Kopf und habe das dann wieder abgeändert, weil die Ausstellung im Centre Pompidou in Paris dazwischen gekommen ist. Da habe ich kurz gedacht, ich könnte aus der Pariser Ausstellung etwas mitnehmen nach Linz, aber im Jänner dann, gab es diese Terrorattentate in Frankreich und das hat für mich wieder alles geändert. Es war wirklich so, als müsste ich meine Gedanken über diese Welt wieder einmal neu ausrichten. Es ändert sich eben viel durch solche Ereignisse und ich kann da nicht nur positiv sein, demgegenüber, oder frei; ich muss mit meiner Arbeit wieder von vorne anfangen und die neue Situation in meine Kunst einarbeiten.

IM: Diese Attentate müssen Sie auf allen Linien getroffen haben: Sie sind Französin, Ihre Eltern stammen aus Nordafrika und da kommt dann alles zusammen, oder??

LE: Das kommt alles zusammen und dann bin ich noch Künstlerin und sollte die beste und freieste Person der Welt sein – weil Künstler frei sein sollen – und plötzlich sehe ich, dass Menschen für diese Freiheit bezahlen müssen. Wir müssen wirklich noch einmal betonen, ja, wir sind frei, aber im Bewußtsein dessen, was geschehen ist. 4.41 In einigen Ländern ist diese Frage der Freiheit eine sehr heikle Frage und ich dachte, wie viele, dass wir uns diese Frage in Europa nicht mehr zu stellen hätten. Aber, das hat wohl nicht gestimmt. Das hat mich schon getroffen.

IM: Aber können Sie es nachvollziehen, dass manche Menschen vielleicht sogar mit guten Gründen sagen, dass deine Freiheit dort aufhört, wo die Sensibilität anderer Menschen beginnt?

LE: Nein. Freiheit ist ein absoluter Wert. Und die Menschen müssen das wirklich verstehen, Freiheit ist unangreifbar, absolut. Wenn man denkt, „Freiheit, ja, aber nur bis zu einem gewissen Punkt, dann ist das keine Freiheit, sondern Diplomatie und ich bin keine Diplomatin, ich bin Künstlerin. Die Entscheidung zu sagen, ich bin frei und bin bereit dafür zu kämpfen, ist eine große Entscheidung und ich muss dafür kämpfen, nicht im direkten Wortsinn, aber ich muss mich dieser Entscheidung stellen.

IM: Wann haben Sie für sich beschlossen, dass Kunst und Politik miteinander zu tun haben?

LE: Das ist nicht erfreulich. Es war 1995, damals in der zweiten Klasse meiner Kunstschule in Grenoble, da habe ich gesehen – zuerst wollte ich nur Künstlerin werden, weil ich gedacht habe, dass Künstler etwas ausdrücken können und ich wollte etwas ausdrücken und ich dachte, ich sei wirklich sensibel und ich sollte mit dieser Empfindsamkeit arbeiten und das was ich spüre weitergeben – der richtige Job für mich, da werde ich lernen mit dieser Empfindsamkeit zu überleben. Dann bin ich zur Kunstschule gekommen, bin zum ersten Mal mit zeitgenössischer Kunst in Verbindung gekommen und war total verwirrt. Und fast zwei Jahre später gab es dann in Paris auch ein Bombenattentat von Terroristen, das dann direkte Auswirkungen auf mich hatte. Weil ich da auf der Strasse unterwegs war mit meinem arabischen Gesicht und dann kann ich aber gar nicht einmal arabisch sprechen. Ich bin also in das arabische Viertel gegangen, um etwas über meine ursprüngliche Kultur herauszufinden – da habe ich mich aber als Fremde gefühlt, unter den Franzosen waren aber auch alle paranoid gegenüber arabisch ausschauenden Menschen und ich habe mich genauso fremd gefühlt. Ich hat sich so angefühlt, als wäre ich überall eine Fremde. Das hat mich gestört, weil ich in diesem Moment begriffen habe, dass ich immer als eine andere gesehen werde, als die, die ich bin. Die Fremde, die Ausländerin. Dann habe ich verstanden, dass das auch eine Stärke sein kann, dieses Sich-fremd-Fühlen, weil ich spreche nicht als Araberin, ich spreche nicht als Französin oder Schweizerin, ich spreche nur als ich selbst, als politisches Individuum, und als solches kann ich allgemeinere Aussagen treffen. Dann habe ich verstanden, dass ich Teil von etwas Allgemeinen war, weil ich in meiner Identität vollkommen erschüttert war – ich konnte mit meiner Identität nicht mehr weiterleben. Es war alles „fake“ ich kann nicht vorgeben, Marokkanerin zu sein, weil ich nicht einmal arabisch spreche, ich kann nicht vorgeben, Französin zu sein, weil man mir das ansieht, dass ich es nicht bin, und in der Schweiz ist es jetzt so, dass jeder, der 3 km von seinem Geburtsort weg ist, schon als Ausländer gilt. Wenn du also in einem anderen Dorf lebst, bist du schon ein Fremder. Das ist lustig, vielleicht fühle ich mich deshalb dort wohl, weil fast alle demnach Ausländer sind.

IM: Das ist typisch für Alpentäler. Das kenne ich gut.

LE: Ja, aber das war der Ausgangspunkt vieler meiner Werke: da taucht ein politischer Sachverhalt auf und ich muss ihn überleben.

IM: Dieses Aufwachsen in einer kleinen Stadt in den französischen Alpen, hat das ihre Arbeit irgendwie beeinflusst?

LE: In meiner Persönlichkeit, ja, in meiner Arbeit weniger. Aber meine Persönlichkeit bestimmt natürlich meine Arbeit. Die Menschen da in den Bergen, sind eher grob, sie verstecken sich gern – das ist ein Charakterzug, den ich mag und vielleicht kommt es ja davon. Aber auch von der marokkanischen Kultur hab ich viel: da kann man nicht direkt reagieren auf etwas, da muss man sich immer verbiegen, um etwas möglichst diplomatisch zu vermitteln, das ist wirklich arabisch – aber es ist eine Mischung von alldem, die mich geprägt hat.

IM: Aber glauben Sie, ist es ein Unterschied, wenn Sie als Immigrantin der ersten Generation in einer kleinen Stadt in den Alpen aufwachsen, oder in Paris mit seinen großen arabischen Communities zum Beispiel?

LE: Oh ja, definitiv. Ich bin da als Kind mitten in den Alpen gelandet, im Schnee und ich hatte noch nie im Leben Schnee gesehen – das hat mich alles schon irritiert und dann habe ich niemanden verstanden, weil ich zu der Zeit marokkanisch gesprochen habe, und habe dann erst angefangen, französisch zu lernen mit den anderen Kindern. Ich konnte auch nicht gleich zur Schule gehen, musste ein wenig warten. Das war am Anfang alles ziemlich schwierig – jetzt finde ich es interessant.

IM: Sie waren also nicht Teil einer größeren Community und mussten für sich selbst kämpfen, für ihr unmittelbares Fortkommen.

LE: Ich glaube, ich habe nicht gekämpft. Aber meine Eltern natürlich schon. Deshalb wollten sie ab einem bestimmten Zeitpunkt zu Hause nicht mehr arabischen sprechen. Sie wollten sich wirklich in die französische Gesellschaft integrieren. Wir haben zu Hause also nur Französisch gesprochen und ich habe mein ganzes Marokkanisch verlernt. Darüber bin ich sehr traurig, weil wenn ich es jetzt lernen möchte, dann ist das sehr schwierig, andererseits kann ich mich nicht beschweren, weil meine Eltern wohl nur das beste wollten. Sie wollten nicht, dass ich zu viel Kontakt zu marokkanischen Kindern habe, damit ich mich besser in die französische Gesellschaft integriere. Ich bin also quasi ohne marokkanische Kultur aufgewachsen.

IM: In dieser Arbeit geht es um ihre Jugend aber auch darum, dass sich viel davon beim Erwachsenwerden verliert; dass man vergißt, vieles keine Rolle mehr spielt, was damals so wichtig war.

LE: Ja, das ist eine Vinylarbeit. Klebebuchstaben an der Wand, wie sie sie als Wandtexte in vielen Ausstellungen haben. Buchstaben in einer Größe, die man bequem lesen kann. Und ich wollte mit dieser Technik, Auszüge aus meinem Tagebuch veröffentlichen, das ich geschrieben habe, als ich 14 war. Ich habe damals immer darüber geschrieben, wie ich die Welt um mich herum verändern wollte. Ich wollte der Menschheit helfen, Menschen auf diesem Planeten retten. Das ist ein wirklich ernsthafter Text, indem ich festhalte, dass ich mein ganzes Leben dafür geben werde, die Menschheit zu retten. Ich habe das wirklich ernst gemeint, sehr ernst. Und wenn es Menschen gibt, die uns davon abhalten wollen, dann wird es wiederum Menschen geben, die an unserer Seite für die Freiheit kämpfen werden und so weiter und so fort.

LE: Es ist also wirklich naif. Aber auch wunderschön. Als ich das alles gelesen habe – da hatte ich gerade das Tagebuch nach langer Zeit wiedergefunden – da dachte ich: wow, wie ernst es mir damals als Kind gewesen ist!! Aber natürlich mitten unter anderen Überlegungen: Schulkram, Jungs, Freunde. Das war alles sehr komplex. Aber zwischendurch gibt es immer wieder solche Manifestos und ich war wirklich gerührt, wie naiv, aber auch wie stark das damals war. Meine Ausstellung im Pompidou war über meine Jugend, Gegenstände aus meiner Jugend, also musste ich mich erinnern und jetzt bin ich in meiner Teenagerzeit gelandet – das nächste Kapitel sozusagen. Diese Kontinuität der Ausstellungen hat mich interessiert. Wie ich es hier zeige: die Buchstaben sind teilweise abgeschabt, wie nach einer Ausstellung. In vielen meiner Installationen hat man ja das Gefühl, nach dem Ereignis gekommen zu sein. Hier geht es darum, dass man nach dem großen Manifesto die Ausstellung abbauen muss. Ich wollte wirklich dieses Gefühl vermitteln: das hat zu einer bestimmten Zeit stattgefunden, die geht vorbei – ich verändere mich nicht so sehr – aber die Zeit zieht an mir vorbei. Und ich muss darüber noch einmal nachdenken. Ich habe also nicht so gehandelt, wie ich mir das damals als 14-jährige vorgestellt habe, aber mit 20 dann habe ich wirklich eine Entscheidung getroffen. In der Kunstschule dann habe ich festgestellt, dass ich das nicht wollte, nämlich direkt im politischen und gesellschaftlichen Geschehen mitzumischen. Diese Etnscheidung habe ich 2001 getroffen, ich war 27, während der Intifada zwischen Israelis und Palästinensern und ich war wegen der Situation so depremiert, dass ich wirklich geweint habe und gedacht habe, wie kann ich da in meinem Atelier Kunst machen, wenn es so viel Kämpfe rundherum gibt. Da habe ich wirklich gedacht, es ist Luxus Künstlerin zu sein und ich habe einige Monate gebraucht, bis ich sagen konnte: das ist NICHT, was ich in meinem Leben machen will. Wenn ich gehe und kämpfe und den Menschen direkt helfe, dann werde ich das nicht tun können – ich bin nicht stark genug dafür. Ich weine ja die ganze Zeit. Wenn ich etwas im Fernsehen sehe, weine ich schon, stellen sie sich mich in der realen Situation vor. Ich habe also beschlossen, dass Kunst genau das Terrain ist, auf dem ich agieren kann. Und ich glaube auch, dass Kunst mehr Freiheit bietet als politisch an einem konkreten Ort zu agieren. Denken Sie nur an Ungarn 1956 – da ging es genau darum: Intellektuelle und Künstler waren an die Macht gekommen und haben sich dann total verändert. Sie wollten nur mehr die Macht behalten. Ich denke, dass Kunst dieses Engagement bewahren kann, und dass ich so freier und umsichtiger agieren kann. Das habe ich gelernt seit damals, als ich diesen Text geschrieben habe. Daher geniere ich mich auch nicht für den Text und die Tatsache, dass ich mich seitdem doch ein wenig verändert habe. . Dieses Auslöschen des Textes bedeutet also nicht, dass ich nicht mehr zu dieser Naivität stünde, sondern dass ich akzeptiere, dass sich das Leben ändert und ich nicht mein ganzes Leben lang 14 sein kann.

IM: Obwohl das eine sehr interessante Periode im Leben ist. Die Welt ist groß, man hat das Gefühl, WIR werden es besser machen. In ihrer Arbeiten verweisen sie oft oft auf den Nahen Osten. Sie scheinen eine ganz besonders nahe Beziehung zu dieser Weltgegend zu haben – ihr Galerist ist in Israel, sie hatten Ausstellungen in Beirut – da gibt es ja eine Menge Probleme auf der ganzen Welt, – warum setzen Sie sich so stark mit dem Nahen Osten auseinander?

LE: Als ich jung war, dachte ich, es gibt Länder, auf die werde ich nie meinen Fuß setzen, wie Israel zum Beispiel, wegen dem Konflikt wie den Palästinensern, USA, weil sie ihre Indianer ermordert haben, ich hatte alle Bücher über Indianer gelesen und ich sagte: die Amerikaner sind Mörder, sie haben alle Indianer umgebracht und ich dachte das auch über Deutschland und Österreich – ich kann nicht in ein Land gehen, das so etwas verbrochen hat. Und dann bin ich in die USA gekommen und es war ok, und nach Deutschland und es war ok, dann wurde ich nach Jerusalem eingeladen von zwei Kuratoren, die ich sehr schätze, und sie haben mich überzeugt, meine Arbeit dort zu zeigen. Das war insbesondere eine Arbeit über rumänische Avantgarde – die war sehr jüdisch bestimmt und alle Künstler wurden im Progrom von 1941 vertrieben. Und so wollte ich etwas über dieses Fremdsein machen, diese Menschen, die nicht als Rumänen galten, weil sie Juden waren. Das wollte ich also in Jerusalem zeigen und die beiden Kuratoren haben gesagt, ja, wir zeigen es, aber nur, wenn du auch kommst. Ich sagte: ich gehe, aber nicht allein. Wenn ich etwas sehe, will ich mich beschützt fühlen. Am ersten Tag war ich ziemlich paranoid, am zweiten hat es angefangen, wirklich cool zu sein und dann habe ich zufällig diesen Galeristen kennengelernt, Dvir Intrator, und ich hatte gerade diese Arbeit über Paul Celan gemacht. Mit ihm habe ich dann angefangen, darüber zu reden, und er hat mich nach Tel Aviv eingeladen. Ich bin dann dahin gegangen und wir haben die Bauhaus – Gebäude besucht – es war wirklich super – und dann sind wir zum Meer gegangen und haben uns da auf eine Bank gesetzt und haben über Poesie und Politik gesprochen und ich habe wirklich gefühlt, dass das mein Platz ist: wenn Kunst mit ihrer Idee von Hoffnung dort überleben kann, dann kann sie überall überleben. So hat diese Zusammenarbeit angefangen und seitdem versuche ich, einmal im Jahr dort zu sein. Bei Dvir habe ich diese Installation mit den Klebebuchstaben im letzten Jahr zum ersten Mal gezeigt.

In Beirut waren es zwei schweizer Kuratoren, die mich dahin eingeladen haben und alle haben gesagt, du wirst viel Spaß dort haben – es ist eine verrückte Stadt, Party die ganze Zeit und als ich dann gekommen bin, war Beirut gar nicht lustig für mich. Es gab da all diese starken Erinnerungen an den Bürgerkrieg. in jeder Strasse erlebst du das, Einschüsse überall und man merkt auch es geht Nachbar gegen Nachbar. Und du hast immer den Eindruck, du gehst ins Bett und wenn du aufwachst könnte der Bürgerkrieg schon wieder losgehen. Das ist ein seltsamer Platz. Ich liebe Tel Aviv aber nicht so Beirut – es ist zu stark und zu kompliziert.

IM: Eine ihrer bekanntesten Installationen dreht sich um ein Zitat von Arafat – Sie sind also mit ihren Gedanken schon oft in dieser Gegend.

LE: Dieses Zitat – ich bin kein Fan von Arafat. Ich habe gerade mit Durchschlagpapier gearbeitet und während der Intifada habe ich mir gedacht, ich muss diesen Konflikt wirklich studieren, ich weiss nichts darüber. Ich habe zwar Gefühle dazu, aber ich brauche auch das Wissen. Ich habe also viele Bücher von beiden Seiten gelesen, viele Bücher und in einem habe ich dieses Zitat gefunden, gerade als ich angefangen habe mit Durchschlagpapier und Matrizen zu arbeiten. Und da habe ich gedacht, dieses Zitat passt zu den Gefühlen, die ich mit dem Durchschlagpapier habe. „For each stencil you have a revolution start“ Jeder hätte diesen Satz sagen können, aber es war er und ich wollte nichts erfinden.

IM: Es gab eine Menge Revolutionen seitdem, aber alle sind mehr oder weniger gescheitert … auch der arabische Frühling, der so hoffnungsvoll begonnen hat. Wie geht es Ihnen damit?

LE: Ich habe eine Arbeit gemacht, die bis vor kurzem in Venedig gezeigt wurde, Phantom Jasmin, ein Stück Holz mit Jasmin und darüber hängt ein Männershort auf einem Ständer, ganz einfach, das ist ein Bild, das ich in Beirut gesehen habe: ein Mann verkauft auf der Straße den Autofahrern diese Jasminblüten – das war wunderschön! und als ich dann zu mir nach Hause gekommen bin, habe ich gedacht, dieses Bild kann ich nehmen, um damit etwas ganz Spezielles auszudrücken. Weil jeder über die Jasminrevolution geredet hat, habe ich immer an dieses Hemd gedacht von dem Mann in Beirut, der es über die Blumen gelegt hatte, um sie vor der Verschmutzung zu schützen, das war für mich ein gültiges Bild. Bei mir fallen dann noch während der gesamten Ausstellungsdauer diese Blüten auf den Boden, sie trocken und fallen ab.

IM: Und sie ersetzen sie dann immer und geben neue Blumen hin?

LE: Ja. Aber die alten bleiben am Boden liegen – man hat also noch den Geruch im ganzen Raum. Das war eine Arbeit zum arabischen Frühling. Revolutionen gehen vorbei, meistens gibt es danach eine Zeit des Terrors, wie bei der Französischen Revolution. Zuerst gibt es die Revolution, dann schneiden sie alle die Köpfe ab, das ist überall passiert. In einer anderen Arbeit „11 mars 2005“ da habe ich nach einer Demonstration in Paris gefilmt und zwar erst, als sie begannen, die Strassen zu reinigen. DAs sind meine Gefühle zu Revolutionen oder Demonstrationen. Das heisst nicht, dass ich dagegen wäre, dass sich die Menschen ihr Recht nehmen würden, zu kämpfen, aber mich berührt dieser melancholische Moment am Ende, wenn man nicht weiss, ob das gut ausgehen wird oder nicht. Wenn man an all diese Energie denkt und schon weiss, dass es danach auch nicht perfekt sein wird. Das ist nicht Traurigkeit, sondern Melancholie. Man muss schon eine Zeitlang warten, bis sich der positive Aspekt einer Revolution durchsetzen kann. Das ist nie gleich danach.

Das ist bei allen Kämpfen so: du hast ein sehr starkes Gefühl am Anfang, dann läßt es nach und dann, nach einer gewissen Zeit kannst du diese Energie wieder nutzen.

IM: Was jetzt gerade in Lybien und Syrien und im Iraq lso ist, all diese ‚Grausamkeiten, die der Islamische Staat anrichtet – wie gehen Sie damit um? ist das noch zu stark, um darüber zu arbeiten? Ich habe von vielen Künstlern gehört, dass sie sagen, wenn man an etwas gefühlsmäßig ganz nahe dran ist, dann kann man keine Kunst machen.

LE: Ich weiss nicht. es ist seltsam, ich weiss nicht, wie die Menschheit mit so etwas weitermachen kann. Ich denke, das schaut wirklcih wie ein Albtraum aus – im Moment bin ich echt pessimistisch. Letzte Woche hatte ich ein kleines positives Gefühl dazu. Ich dachte an den Untergang von all den großen Religionen – sie alle gehen irgendwann unter. Sie wollen Macht haben, und das ist genau der Moment, wo sie anfangen zu versagen. Ich warte darauf. Ich hoffe, das dauert jetzt nicht mehr 200 oder 2000 Jahre, ich hoffe, das geht schneller. Wenn ich darüber rede, werden es die Leute aber so lesen, als käme es von einer arabischen Frau. Ich würde darüber gerne wie eine weisse Schweizerin, frei darüber reden können. Aber ich bin nun einmal arabisch, und meine Aussage ist dann nciht mehr unschuldig. Ich hoffe, es wird better und diese Länder müssen die Waffen erheben und selbst gegen diese Kriminellen kämpfen – denn wenn nicht, was passiert dann? Syrien wird es nicht mehr geben und dann gehen sie nach nordafrika und langsam der ganze Kontinent. Aber ich bin nicht die einzige Person mit arabischem Hintergrund, die an Frieden und Gleichberechtigung glaubt, also bin ich sicher, dass das nicht geschehen wird. Allerdings weiss man es bei Verrückten nicht so genau. Die sind echt verrückt, brainwashed. Aber wir haben das Gleiche ein Europa gesehen, in den 30er Jahren – plötzlich unterstellten wir den Juden ein Komplott und sie waren alle verdächtig und mussten vernichtet werden. Das ist gar nicht so lange her. Ich denke die Europäer sollten schon auch sehen, dass das hier auch schon passiert ist. Man muss da auch ein bisschen ausgewogener sein mit dieser Paranoia der arabischen Welt gegenüber. Das spüre ich nämlich schon sehr stark. Als ich Ihnen früher von den Attentaten in Paris 1995 erzählt habe, da spürte ich das gleiche, dass die Menschen mich verdächtigen würden. Wenn ich einen Rucksack trage, bin ich verdächtig, wenn ich eine schwarze Jacke trage genauso. Ich schaue mich nicht immer an, wenn ich hinaus gehe, aber es ist so: wenn ich schick bin, ist es ok, aber wenn ich es nicht bin, kann ich schnell verdächtigt werden. Aber die sind wirklich brainwashed, und was mich wirklich beschäftigt, sind diese Teenager, die wirklich die Welt retten wollen und für die Menschheit etwas Gutes tun, und wenn sie in die Hände von diesen gehirnwaschenden Terroristen gelangen, dann machen sie aus Ihnen auch sehr gefährliche Menschen, die irgendwo hin gehen und auf Menschen schießen. Daher wollte ich diese Arbeit noch einmal zeigen, weil ich es gemacht habe, bevor das alles in Paris mit Charlie Hebdo passiert ist. Weil ich auch die Welt retten wollte und sicher war, dass das auch das Gefühl der jungen Leute ist, die sich dem IS anschliessen. Sie folgen dem dunklen Weg, andere dem hellen, aber man weiss selbst nicht, auf welcher Seite man steht. Sie glauben ja, dass sie im Recht sind. Ich habe Interviews von Teenagern gelesen, die erzählen, wie sie auf facebook rekrutiert worden sind, speziell von einem jungen Mädchen, deren Eltern sie gerade noch zurückhalten konnten, bevor sie nach Syrien fahren konnte – sie hatte nicht einmal einen arabischen Hintergrund!! Das hat mich seltsam angerührt, weil sie nur etwas Gutes tun wollte.

IM: Sie sagen, sie kämpfen gegen diesen verdorbenen Westen, die Sinnlosigkeit, Konsum, Alkohol, Drogen …

LE: Die glauben, das ist eine Lösung.

IM: Warum sind diese Wolken hier so schwarz – warum sehen wir die Rückseiten?

LE: Ja, vielleicht werde ich doch langsam pessimistisch…. nein, das ist nur ein Augenblick, eine Momentaufnahme, in Paris konnte man die blau-weissen Vorderseiten sehen. Das ist nur eine Pause, bevor ich wieder etwas anderes mache – so etwas wie die Witwe der optimistischeren Version, die ich im Centre Pompidou gezeigt habe.

IM: Sie verwenden die Farbe Blau sehr oft in ihren Werken. Was hat es mit diesem Blau bei Ihnen auf sich?

LE: Blau ist eine der wichtigsten chemischen Farben. Das Blau, das ich bei den Durchschlagpapieren verwende, nehme ich deshalb, weil es die Industriefarbe war, mit der man Dinge duplizieren konnte. Und dann arbeite ich mit Tinte – … Blau, eine der ersten chemischen Farben. Als ich diese Tinte in Deutschland bestellt habe, habe ich bemerkt, das ist fast die gleiche Farbe wie bei den Blaupausen. aber es ist sicher kein Meeresblau oder so. Es hat nichts mit dem Blau zu tun, das diesen kolonialistischen Beigeschmack hat, weil sich die Europäer aufgemacht haben, um es in ihren Kolonien zu gewinnen. Mein Blau ist industriell und hat eher damit zu tun, dass es das erste Blau war, das man in großen Mengen herstellen konnte. 41.55 Auch um Dokumente zu vervielfachen.

IM: Es hat also nichts zu tun mit der Romantik, der blauen Blume der Romantik, Derek Jarmans Film über Blau, Melancholie, Yves Klein??

LE: Nein, natürlich, wenn man Blau sieht, denkt man das alles mit, aber ich habe in diesem Fall wirklich mehr an den chemischen Prozess gedacht und dann gesehen: oh ja, es ist eine schöne Farbe.

Latifah Echakch führt durch ihre Ausstellung im Lentos in Linz:

LE: Erinnern Sie sich, dass ich Ihnen am Beginn dieses Gespräches erzählt habe, ich musste erst wieder meine kulturellen Wurzeln ausgraben?? diese Ornamente hier stammen aus der arabischen Kultur und ich musste lernen, wie man diese Ornamente als gute Studentin ganz genau symmetrisch zeichnet. Da ich dann aber keine gute Studentin mehr sein wollte, habe ich nachgedacht, wie ich diese Perfektion ein wenig stören kann. diesen Respekt ein wenig dekonstruieren. Dieselben Linien, aber ich mische sie chaotisch. so kann man diese Idee des Absoluten und Unendlichen, also Gott, nicht mehr darin finden. Und für mich awr das meine Möglichkeit, das zu zerstören.

IM: Das sind ja komplett komplementäre Zugänge bei der europäischen und der islamischen Kultur – die eine setzt auf permanente Erneuerung, die andere auf perfekte Wiederholung.

LE: Ja, genau. Die Arbeit heisst „dérive“ stammt aus dem Jahr 2009; man liest es von rechts nach links, jedes Bild folgt auf das vorherige, Derive kommt von „dérive psychogeografique“ von den französischen Situationisten, sie versuchten herauszufinden, wie man seine Stadt neu sehen kann und haben festgestellt, dass man Neues einfach dann entdecken kann, wenn man andere Wege durch die Stadt nimmt. Ich wende also dieses System der „dérive psychogeografique“ auf das Ornamentsystem der arabischen Kultur an. Mache es also auf eine „französische“ Art und Weise kaputt.

IM: Das heisst „Dekonstruktion“ hat für sie einen sehr positiven Grundgeschmack?

LE: Das ist der Beginn von etwas Neuem. Das ist sicher angelehnt an Walter Benjamin dem „charactere constructeur“ – er liebt die Ruinen, wenn alles kaputt ist, nicht, weil es kaputt ist, sondern weil es die Möglichkeit gibt, etwas Neues zu machen. Das ist ein roter Faden durch meine ganze Arbeit: zerstören, ja! aber um damit etwas neues zu machen.

IM: Hervorragend, danke!