Ende der 1960er Jahre schrieben sie erstmals Geschichte. Gemeinsam mit einer Handvoll weiterer Künstler:innen riefen sie der Tropicália-Bewegung ins Leben. Sie verband brasilianische Tradition mit Pop-Rock und psychedelischer Musik; internationale Avantgarde-Strömungen sollten gleichsam metabolisiert werden, in Anknüpfung an die Idee des „Anthropophagismus“ (Kannibalismus) des Dichters Oswald de Andrade.
Die Diktatur in Brasilien dankte ihnen die künstlerische Pionierarbeit mit Gefängnis, Hausarrest und Verbannung; von 1969 bis 1972 verbrachten Gilberto Gil und Caetano Veloso zwei Jahre im Exil in London – Ort weiterer musikalischer Anregungen. Politisches Engagement für vielerlei Anliegen, etwa für die Rechte der indigenen Völker Brasiliens, blieb für beide wichtig; Gilberto Gil war von 2003 bis 2008 Kulturminister unter Präsident Ignácio Lula da Silva.
Am 26. Juni 1942 kam Gilberto Gil in Salvador de Bahia zur Welt, Caetano Veloso am siebenten August desselben Jahres in der nahegelegenen Stadt Santo Amaro da Purificação. Beide sind geprägt von der afrobrasilianischen Kultur des brasilianischen Nordostens; Gilberto Gil auch durch Kindheitsjahre, die er im ruralen Landesinneren verbrachte, in der einprägsamen Landschaft des Sertão. Die traditionellen Stile und Rhythmen ebenso wie die hohe Bossa-Nova-Kunst eines João Gilberto sind in die Musik von Veloso und Gil eingeflossen.
Daraus und aus vielen anderen Impulsen haben beide einzigartige Stile geschmiedet, mit der prägnanten hohen Stimme Velosos und der tieferen Gils als Markenzeichen. Musikalische Wortkunst beziehungsweise Musik mit literarischem Anspruch, der dem eines Bob Dylan oder Leonard Cohen nicht nachsteht – nur auf der weltweit weniger verbreiteten Sprache Portugiesisch. Jeder für sich und gelegentlich gemeinsam haben sie Musik für Filme, Theater und Tanz geschaffen und unzählige Auftritte absolviert, zuletzt vor allem mit Kindern und Kindeskindern. Mehrere von Velosos Söhnen sind inzwischen selbst erfolgreiche Musiker.
Die Spielräume Nachtausgabe bringt eine dreistündige Würdigung mit Gästen und Gesprächen, Interviews mit beiden Künstlern und natürlich ausführlichen exemplarischen Ausschnitten aus dem Oeuvre beider Jubilare, sowie Aufnahmen, die der Gitarrist und Komponist – und heute ausnahmsweise auch Sänger – Emiliano Sampaio für diese Sendung gemacht hat.
Weiters zu Gast: Carolina Borges, Leiterin des Portugiesisch-Sprachbereichs am Zentrum für Translationswissenschaften der Uni Wien, die Künstlerin und Autorin Lívia Mata und Sérgio De Alvim Carneiro, Mathematiker, Physiker und Kenner brasilianischer Musik und Kultur, und aus Köln zugeschaltet der Literaturwissenschaftler und zeitweise Musikjournalist Thomas Sträter.