Die Sprache des Widerstands. Über die Künstlerin Anna Jermolaewa

Die Sprache des Widerstands.
Über die Künstlerin Anna Jermolaewa
Dokumentation, 30 Minuten, Ö 2024
Ines Mitterer / Walter Reichl
Kurzbeschreibung:
Welche Mittel haben wir in der Hand, um uns jetzt, hier, in unserer heutigen Welt gegen Ungerechtigkeit, Extremismus, Radikalisierung zu wappnen?
Anna Jermolaewa hat da ein paar Ideen.

Der Film begleitet die österreichische Künstlerin Anna Jermolaewa bei ihren letzten Vorbereitungen für ihren großen Auftritt im österreichischen Pavillon auf der Biennale in Venedig 2024. Wie in den meisten ihrer Arbeiten wird es dabei politisch und poetisch um gesellschaftlich relevante Fragen unserer Zeit gehen: das Ringen um Menschenrechte, die Verteidigung von Bürgerinnenrechten, das Drama der Flucht und wie geht Widerstand unter zunehmend repressiven und diktatorischen Regimen, was Anna Jermolaewa selbst als Kind und Jugendliche erlebt hat.
Das passt perfekt zum Thema der Kunstbiennale in Venedig 2024, das der brasilianische Hauptkurator Adriano Pedrosa, ausgerufen hat: „Stranieri ovunque – Fremde überall“
Anhand der Werke von Anna Jermolaewa läßt sich die gesellschaftliche Entwicklung Europas nach dem Zerfall der Sowjetunion und die Auswirkung dieses Prozesses in Europa und in Russland nachempfinden. Die Künstlerin bildet mit ihrer Arbeit Geschichte ab – aber vor allem, wie sich der Lauf der Geschichte auf den einzelnen Menschen sowie die Gesellschaft auswirkt. Das Menschliche hat einen hohen Stellenwert in Jermolaewas Kunst, wenn nicht den höchsten. Und deshalb ist ihre Kunst auch so zugänglich, verführt mit Humor und Poesie und verleitet dann zum Eintauchen in komplexe gesellschaftliche und politische Verflechtungen.
Die 1970 in St. Petersburg geborene Künstlerin musste aus politischen Gründen 1989 aus der UdSSR flüchten.

Sie war Ende der 1980er Jahre noch als Schülerin Mitbegründerin der ersten oppositionellen Partei „Demokratische Union“ und Mitherausgeberin der Parteizeitung gewesen. Die neuen Spielregeln der Perestroika waren damals noch nicht so klar und die Freunde rund um Partei und Zeitung wurden von der Staatsmacht drangsaliert und bedroht, Jermolaewas Wohnung von der Polizei durchsucht.
Sie verließ das Land und kam über Polen nach Österreich, zuerst ins Flüchtlingslager Traiskirchen, was in Venedig auch eine Rolle spielen wird. Ihre gesamte Familie und fast die ganze jüdische Verwandtschaft ist wegen der eskalierenden antisemitischen Lage im Rußland der 1990er Jahre ausgewandert, hauptsächlich in die USA und nach Israel. Ein Großteil ihrer väterlichen Verwandtschaft war in einem Gulag eingesperrt.
Anna Jermolaewa ist an den Ort des Straflagers gefahren und hat eine Videoarbeit mitgebracht: „Gulag“. Dabei zu sehen: Objekte wie eine Schublade, in der Schlüssel verräumt sind: „Tischlerei“, „Badeanstalt“,“Lager“ und „Leichenhalle“ sind die Haken beschriftet. Es sind die Schlüssel aus diesem Gulag in Sibirien. „In der Lade findet sich komprimiert die Struktur des Zwangsarbeiterlagers wieder“, sagt Jermolaewa. Ein Blick darauf genügt, man versteht. So einfach und so eindringlich kann Kunst sein.

Seit ihrer Flucht setzt sich Anna Jermolaewa immer auch mit dem Leben im heutigen Rußland und den Nachfolgestaaten der UdSSR auseinander. Eine ihrer jüngeren Arbeiten, namens „Singing Revolution“, ist etwa eine Videoinstallation mit drei Filmen, die jeweils einen Chor aus den drei baltischen Hauptstädten zeigt. Die von der Künstlerin zusammengestellten Chöre singen noch einmal die Protestlieder, mit denen in Estland, Lettland und Litauen bei Massenprotesten in den Jahren von 1988 bis 1991 die Unabhängigkeit von der Sowjetunion gefordert wurde.
Das ist nur eine von Jermolaewas Untersuchungen von Ausdrucksformen zivilen Widerstands und friedlicher Proteste, dem auch ihr Biennale Beitrag gewidmet sein wird.
Anna Jermolaewa arbeitet meistens mit Videos oder Fotografien, was unserem Film auch zugute kommt – weil sich damit viel erzählen läßt, von ihrer eigenen Flucht, über die Beliebtheit russischer Herrscher von Lenin über Gorbatschow bis Putin bis zur Atomkatastrophe von Chernobyl, wo Jermolaewa in „Chernobyl Safari“ das wilde Leben der Tiere dokumentiert, das im Gebiet der Sperrzone prächtig gedeiht. Da Anna Jermolaewa sich seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine auch für die Geflüchteten aus der Ukraine einsetzt (schon in der ersten Kriegswoche zur Grenze nach Polen gefahren ist und Geflüchtete von dort nach Wien begleitet hat) wird es in einer Arbeit für Venedig auch um eine ukrainische (Tanz) Künstlerin gehen, mit der gemeinsam Jermolaewa Dreharbeiten für den Herbst geplant hat.
Wir drehen Anna Jermolaewa bei ihrer Arbeit, führen Gespräche mit ihr und Kennern ihrer Arbeit (Gabriele Spindler, Kuratorin Österr.Pavillon, Thomas Trummer, Direktor Kunsthaus Bregenz, Robert Pfaller, Philosoph) aber auch mit der ukrainischen Tänzerin, die vor dem Krieg mit ihren 3 Kindern geflüchtet ist und sich danach sehnt, endlich wieder in ihrem Bereich arbeiten zu können.