Casanova – der Venezianer in: Der Augenblicksvielfraß. Diagonal zur Person Giacomo Casanova
Diagonal 30.03.2025
ATMO: Venedig ruhig Alessandro and me
Mod.: Eigentlich ist es eine Schande: das einzige Denkmal, das das große Welttheater, die durchlauchteste Stadt Venedig einem ihrer grandiosesten Darsteller schenkt, ist eine mikrige Marmortafel in einer winziger Seitengasse, bei San Samuele, das ist der Platz gleich hinter dem Palazzo Grassi: traurig eingezwickt zwischen zwei Regenrinnen und grauen Kabelsträngen steht da unter dem Strassennamen Calle Malipiero vollkommen schmucklos (übersetzt):
Zitat Tafel: In einem Haus dieser Gasse, damals „Calle della Commedia“ wurde am 2.April 1725 Giacomo Casanova geboren.
Mod.: … und nicht einmal das stimmt, erklärt unser Casanova Experte Alessandro Marzo Magno, Venezianer mit Wohnsitz in Mailand. Die Gasse, in der der illustre Frauenheld zur Welt gekommen war, ist zwar hier in der Nähe, aber nicht genau in dieser Calle. Irgendwann hatte sich die Geschichte von Giacomo Casanova, Sohn des Schauspieler Ehepaares Gaetano Casanova und Zanetta Farussi verselbständigt und viele neue Blüten und Halbwahrheiten hervorgebracht. Marzo Magno hat ein Buch darüber geschrieben.
Alessandro Marzo Magno 43 Libri
Voice over: Dieses Etikett des Frauenhelden oder Don Juan wurde ihm im 19. Jahrhundert umgehängt, um sein Buch zu verkaufen, das bis dahin unbekannt war. Niemand erinnerte sich an ihn, also veröffentlichte man diese Memoiren und, wie es heute üblich ist, um etwas gut zu verkaufen, benutzte man Sex, man machte ihn auch ein bisschen zu einem Casanova! Er ist offensichtlich ein Wüstling, er ist ein Sohn des 18. Jahrhunderts, also gibt es diese sexuelle Komponente, aber er war etwas anderes, er war zum Beispiel ein Gentleman, der während seiner Lebenszeit 43 Bücher veröffentlichte, was nicht gerade wenig ist, auch heute noch, 43 Bücher!
Mod.: Das Berühmteste, „Die Geschichte meines Lebens“, seine Memoiren, 1.800 dicht beschriebene Doppelseiten gebündelt zu 6 Bänden im französischen Original, hat er bekanntlich nicht hier in seiner Heimatstadt geschrieben. Trotzdem erfährt man daraus, wie Venedig so getickt hat, damals im 18. Jahrhundert.
ATMO: platz und stimmen mit Wassergeplätscher: + musik baldych
Zitat Casanova Erberia
Der Platz, den man Erberia nennt, liegt am Ufer des Canal Grande, der die Stadt durchquert; man nennt ihn so, weil er tatsächlich der Markt für Gemüse, Früchte und Blumen ist.Wer dort zu so früher Stunde spazierengeht, behauptet, er tue das wegen des unschuldigen Vergnügens, in zwei- oder dreihundert Booten aller Art alles ankommen zu sehen, was die Bewohner der kleinen Inseln rings um die Hauptstadt an Gemüse, Früchten aller Art und Blumen der Jahreszeit hereinbringen und billig an die Großhändler verkaufen, die es mit einem Aufschlag an die Zwischenhändler weiterverkaufen, die es ihrerseits an die kleinen teuer abgeben, welche es schließlich zu noch höheren Preisen in der ganzen Stadt ver-teilen. Aber es ist nicht wahr, daß die Jugend von Venedig vor Sonnenaufgang zur Erberia kommt, um dieses Vergnügen zu haben; das dient ihnen nur als Vorwand. Die dorthin kommen, sind Lebemänner und Frauen, die die Nacht in Villen, Gaststätten oder Gärten bei den Freuden der Tafel oder den Leidenschaften des Spiels verbracht haben.
ATMO: Museum leise reinmischen + musik?
Mod.: Wie das damals genau ausgeschaut hat, zeigt jetzt die Ca‘ Rezzonico, der prachtvolle Palazzo am Canal Grande, mit riesigem Ballsaal – Format Schönbrunn – einem Schlafzimmer mit Boudoir, Jugendwerken von Canaletto, die die Stadt noch weniger Postkartenartig zeigen, als dann in den späteren Gemälden und Fresken zum Theaterleben von Giovanni Domenico Tiepolo. Akrobaten von Schaulustigen umringt, Pulcinella, die schlaue, listige, grobe Figur mit Maske greift der Schönen auf die Brust und treibt allerlei Unsinn. Hier treffen wir Daniele D‘ Anza, Kurator des Venezianischen Museenverbandes, zu dem Ca‘ Rezzonico gehört.
Daniele D‘ Anza OT Sitten in Venedig
Voice over: Casanova verkehrte mit den Reichen und Schönen, er nahm an allen Vergnügungen der Zeit teil, frequentierte die Theater, aber auch die „ridotti“, die Spielkasinos, wo Karten gespielt und gewürfelt wurde. Er verkehrte mit den Gemahlinnen von Adligen waren, denn sowohl in Venedig als auch im Paris der damaligen Zeit, war es besser, wie er schreibt, einer Adligen nachzustellen als irgendeiner Frau. Denn der Adlige war eifersüchtig auf seine Geliebte und nicht auf seine Frau. Damals wurden Ehen jaarrangiert und daher suchte der Adelige die Liebe seines Lebens in seiner Mätresse und erlaubte wiederum seiner Frau auch Liebhaber zu haben.
Mod.: O tempora! O mores! So viel zum Casanova in Casanova – für die verkürzte Wahrnehmung eines erotomanen Frauenhelden war übrigens, da sind sich hier alle einig, ausgerechnet der Leipziger Brockhaus Verlag verantwortlich: der einzige Verlag, der das Angebot von Casanovas Erben annahm, seine posthum erschienene „Geschichte meines Lebens“ überhaupt zu publizieren:
OT Klischee
Sie haben nicht alle sechs Bände veröffentlich, wie Casanova es sich gewünscht hätte, sondern sie holten sich in den ersten Veröffentlichungen nur die erotisch prickelnden Episodenheraus. So blieb Casanovas Ruhm bis ins späte 20. Jahrhundert auf sein Liebesleben reduziert, dabei war Casanova so viel mehr: „Die Geschichte meines Lebens“ ist eines der faszinierendsten Fresken des achtzehnten Jahrhunderts in Europa.
ATMO: Geplätscher + wieder museum
Mod.: aber bleiben wir in Venedig und fahren ein Stück weiter zur Vaporetto Station: San Stae – gleich dahinter steht der Palazzo der Familie Mocenigo, heute das Museum für Angewandte Kunst in Venedig. Hier gibt es die erste Ausstellung zum 300. Geburtstag von Casanova heuer– der Ausstellungs- und Veranstaltungsreigen nimmt aber erst im Herbst so richtig Fahrt auf.
Musik Baldych
Mod.: Im Palazzo Mocenigo – prachtvoll ausgestattet wie es sich für eine Dogenfamilie gehört – geht es jetzt um das veränderte Männerbild in Casanovas Jahrhundert: vorbei die Zeit, als Männer mit kriegerischem, machoiden Gehabe verführen konnten, jetzt waren Raffinesse, Kultur, Bildung und Charme die Eigenschaften der Stunde. Und Casanova war – selbstredend – Meister darin.
Chiara Squarcina Portavoce
Voice over: Dieses Venedig ist ein internationaler Ort ante litteram ähnlich wie New York vor 30 Jahren, der es ermöglichte, dass jemand, der die Veranlagung und die Intelligenz hatte, aufsteigen konnte. Casanova stammte nicht aus einer aristokratischen Familie, aber er hatte den Scharfsinn und die Fähigkeit, sich in eine venezianisches Patrizierfamilie einzuschleusen und sich beliebt zu machen. Mode und Umgangsformen, die Ästhetik spielte dabei eine große Rolle. Und Casanova wurde in diesem Kontext sogar zur Ikone, zum Wortführer.
Mod.: Chiara Squarcina leitet den Venezianischen Museenverband und ist damit die Herrin all dieser Herrlichkeiten, die man in den venezianischen Palazzi erleben kann, wenn man die Zeit dafür aufbringt.
Als Casanovas Vater stirbt, kümmert sich der Patrizier Grimani gemeinsam mit der Nonna um das Fortkommen des kleinen Giacomo. Grimani leitet einige Theater in Venedig, ist der Agent der erfolgreichen Schauspielermutter Casanovas und man munkelt, nicht nur das …. Casanova selbst schreibt, Grimani wäre sein leiblicher Vater gewesen. Jedenfalls schmeckt ihm das adelige Leben. Aber bevor er dabei so richtig mitmachen kann, muss er seine Talente schulen. Die Nonna und der Gönner schicken ihn nach Padua an die Universität. Dort lernt er die Basis für seine späteren Aktivitäten als
Zitat Wiki: „promovierter Jurist, Schriftsteller und Bibliothekar, Dichter, Philosoph und Übersetzer, Chemiker, Alchemist und Mathematiker, Historiker und Diplomat, Glücksspieler und Geheimagent, Freimaurer und Abenteurer“
Mod.: …. wie ihn das zeitgenössische Lexikon namens Wikipedia ausweist.
Fortuna spielt mit und Casanova darf sich dann bald in der Gesellschaftsschicht bewegen, für die er sich prädestiniert hält, aber längst nicht alle:
Alessandro Marzo Magno da ponte aristokraten verachten ihn
Voice over: Was seine Zugehörigkeit betrifft, wollte er immer Aristokrat sein, aber offensichtlich wurde er von dieser Gesellschaftsschicht nicht anerkannt, weil er nicht den entsprechenden Familienname hatte. Zu der Zeit war das notwendig, also fühlte er sich immer als Teil einer sozialen Klasse, die ihn wiederum verachtete, und das gab seinem Leben immer so einen traurigen und melancholischen Grundton.
Mod.: Fellini habe den gut getroffen, meint Alessandro Marzo Magno, in „Fellinis Casanova“ mit Donald Sutherland in der Hauptrolle – eine von vielen Verfilmungen ….
In seiner venezianischen Jugendzeit, geschildert mit vielen Lausbubenstreichen und genauen Beobachtungen, wie die Stadt am Wasser so funktioniert, war beim aussergewöhnlich großen, von vielen als „schön“ gesehenen Mann noch nicht so viel zu spüren von Traurigkeit und Melancholie.
Chiara Squarcina Kultur nicht Dekadenz
Er war ein Mann, der von Männern und Frauen geliebt wurde. Er war der Protagonist einer sehr speziellen Zeit in Venedig. Man sollte nicht von Dekadenz sprechen, sondern von einem Höhepunkt kulturellen Lebens. Hier wurden die Zeitschriften erfunden, es war ein Zentrum des Buchdrucks. Eine hochaktive Stadt, in der man auch enge Beziehungen zum aufgeklärten Frankreich pflegte, am Vorabend der französischen Revolution.
Mod.: Dekadent und frivol – aber geh!
Alessandro Marzo Magno man konnte alles tun ausser macht anzweifeln
Um 1700 konnte „Reich und Schön“ in Venedig und Paris, wie in vielen europäischen Städten, fast alles tun, aber man durfte die Mächtigen nicht in Frage stellen, das war also nicht politisch korrekt, wie wir heute sagen würden.
Mod.: Genau das scheint Casanova geschafft zu haben – bis heute weiss man nicht, warum genau, aber er landete im Gefängnis, den berühmt berüchtigten Bleikammern im Dogenpalast.
Musik und ATMO: rund um dogenpalast
Zitat Casanova Kerker:
Dieser ungebildete Tropf hatte recht, und ich stellte es nur allzu deutlich einige Tage später fest. Ich erkannte, daß ein Mann, der ganz allein eingesperrt ist und sich mit nichts beschäftigen kann, allein in einem fast ganz dunklen Raum, wo er den, der ihm das Essen bringt, nicht oder nur ein einziges Mal am Tag zu Gesicht bekommt, und wo er nicht aufrecht umhergehen kann, der unglücklichste aller Sterblichen ist. Er wünscht sich in die Hölle, wenn er an sie glaubt, nur um Gesellschaft zu haben. Ich bin in meinem Kerker so weit gekommen, mir die eines Mörders, eines Verrückten, eines ekligen Kranken, eines Bären zu wünschen. Die Einsamkeit unter den Bleidächern treibt zur Verzweiflung; aber um das zu wissen, muß man selbst die Erfahrung gemacht haben. Wenn der Gefangene gebildet ist, sollte man ihm Schreibzeug und Papier geben; sein Unglück würde dann um neun Zehntel vermindert.
Mod.: Ausgerechnet diese bis dahin dunkelste Zeit seines Lebens sollte Casanova international berühmt machen und so den Weg frei geben zur erlauchten Gesellschaft in ganz Europa. Es war ihm nämlich das Unwahrscheinliche gelungen: der Ausbruch aus dem Hochsicherheitsgefängnis der Lagune – gleich hinter der Seufzerbrücke.
Alessandro Marzo Magno Flucht
Es war eine waghalsige Flucht, er kletterte auf das Dach, er entkam bei Nacht, er entkam, indem er mit seinem Zellennachbarn, Pater Balbi, er war Priester einer Patrizier-Familie, ein Loch in die Decke der Zelle schlug, denn die Bleikammern befanden sich auf dem Dachboden des Dogenpalastes und das waren die Zellen für die illustren Gefangenen, die Zellen für die wirklich hässlichen und gefährlichen befanden sich im Erdgeschoss, bei Flut drangen Wasser und Ratten ein, das waren keine schönen Orte.
Mod.: Einmal geflohen wird seine Geschichte zum Kapital. Überall will man sie hören an den Höfen Europas von Paris über London und Potsdam bis St. Petersburg……
Daniele D‘ Anza OT Kerker
Auch andere Menschen sind aus dem Gefängnis in Venedig geflohen, aber der einzige Ausbruch, der in die Geschichte eingegangen ist, ist der von Giacomo Casanova. Das liegt daran, dass Casanova in der Stadt bereits bekannt war, in Italien sowieso, und sein Ausbruch machte, an den europäischen Höfen die Runde. Casanova wollte sie dann mit dieser Veröffentlichung verewigen. Der Ausbruch aus den Bleikammern ist auch anderen gelungen, aber nur einer, Casanova, hat sich damit selbst gefeiert.
Mod.: Vorerst mündlich – er muss ein großer Unterhalter gewesen sein und für die Fluchtgeschichte ließ er sich bei seinen ZuhörerInnen, dem Vernehmen nach, mindestens 2 Stunden reservieren. Zu Papier gebracht und publiziert hat er die Geschichte dann erst viel später, 1788. Nach seinem Ausbruch aus den Bleikammern musste Casanova Venedig meiden, 18 Jahre lang führte ihn sein Leben durch ganz Europa, manchmal reich, manchmal arm, manchmal erfolgreich, manchmal frustriert. Er wollte zurück nach Venedig und ließ sich dafür erst einmal in Triest nieder. Der venezianische Konsul in der Habsburgerstadt unterstützte sein Vorhaben. Zwei Jahre buhlte er mit ihm gemeinsam um die Gunst des venezianischen Rates der 10 – der Regierung der Adelsrepublik und um seine Begnadigung. Unter einer Premisse wurde die zugestanden: Giacomo Casanova sollte Spion werden und seine Landsleute für die Staatsinquisition beobachten. Daniele D‘ Anza:
OT Spion
DDA: Für all diese Dienste, die Casanova als Spion der Durchlauchtigen Republik anbot, wurde er begnadigt und konnte nach Venedig zurückkehren. Seine Beziehung zum Dogenpalast begann also gewissermaßen als Gefangener in den Kerkern des venezianischen Staates und ging dann über in die Rolle eines Kollaborateurs und Spions, wiederum des venezianischen Staates.
IM: Aber hat er Ihnen etwas Wichtiges erzählt?
DDA: Nein, ein Kommentator sagte, dass er der nutzloseste Spion war, den die Serenissima je gehabt hatte!Er gab sich eher wie ein alter Hauslehrer, der Ratschläge gab, wie man sich verhalten sollte, so dass in seinem Freundeskreis jeder wusste, dass er offiziell als Spion für den Rat der Zehn arbeitete, aber niemand nahm ihn als Spion ernst.
Mod.: Ein unwürdiger Job, Casanova, den großen Kenner der Lüste und Laster der Reichen und Schönen, juckt es in den Fingern und er schreibt eine Art Schlüsselroman: ein Pamphlet gegen den Adel und seine Exzesse, indem er etwa auch behauptete, der Erbe des gewaltigen Palazzo Grimani sei gar nicht der richtige Sohn seines Vaters – er selbst, Casanova, aber schon …. Nun, das kam nicht so gut an – seine Freunde rieten ihm dieses Mal gleich zu fliehen, um gar nicht erst in den Bleikammern zu landen und das war es dann mit Casanova und Venedig – er wird nie wieder zurückkehren…….