Dacia Maraini

Die italienische Schriftstellerin Dacia Maraini, bekannt durch ihren Roman „Die stumme Herzogin“ ist eine der führenden Intellektuellen Italiens und kritische Stimme seit den 60er Jahren. Bekennende Feministin und überzeugte Römerin bedauert sie die Überschwemmung Roms durch Touristenströme und sieht doch Licht am Ende des Tunnels, einen frischen Wind, der die ewige Stadt aufmischt. Ein Gespräch anlässlich von Diagonals Stadtportrait Rom.

IM: Frau Maraini, Sie sind in Florenz geboren, in Japan und auf Sizilien aufgewachsen und dann nach Rom gezogen. Seit Sie hier leben also 40 – 50 Jahre, hat sich etwas verändert seit damals?

DM: Die Stadt hat sich sehr verändert, leider zum Schlechten. Sie ist vulgärer geworden, hat ihre Plätze verloren, die Orte der Begegnung gewesen sind, Piazza del Popolo oder Piazza Farnese, die Plätze, auf denen man sich getroffen hat. Gleich hier vorne an der Piazza del Popolo etwa, gibt es die Bar Rosati, die wurde früher viel von den Intellektuellen der Stadt frequentiert. Man konnte dorthin gehen und hat immer jemanden getroffen: Fellini, Pasolini, Moravia, Antonioni…man hat geplaudert, diskutiert. Heute findet man auf der Piazza und in der Bar nur Touristen, Chinesen, Amerikaner … Man hat diesen Geschmack der Stadt verloren, der wiedererkennbar war – diese Strassen und Plätze, auf denen man sich in der Öffentlichkeit getroffen und ausgetauscht hat. Das ist weg – heute unterliegt alles dem Diktat des Tourismus. Was dieser Stadt heute fehlt, ist ihr Körper; ihr lebendiger, vibrierender, wiedererkennbarer Organismus.

IM: Wir lesen ihre Texte im Ausland auch als Texte einer sehr starken weiblichen und feministischen Stimme in Italien. Man hat den Eindruck, dass die Frauenbewegung, der Sie angehört haben unter Berlusconi ins Hintertreffen gelangt ist. Wie geht es der italienischen Frau heute?

DM: Nach dem Jahr 1968 – für mich die bedeutendste friedliche Revolution überhaupt und hier in Italien sehr stark – hat sich alles verändert. Vor allem wurde die Gesetzeslage endlich reformiert. Die Gesetze, die das Familienleben, die Beziehung zwischen den Geschlechtern geregelt hatten, wurden fundamental umgekrempelt. Bis in die 1970er Jahre galten bei uns die patriarchalen Gesetze aus dem 19.Jahrhundert: in den Familien hatte demnach nur das männliche Familienoberhaupt das Sagen, oder der Ehebruch der Frauen war ein Verbrechen gegen die Familie, das bestraft wurde und der Ehebruch der Männer überhaupt nicht. Vergewaltigung war ein Verbrechen gegen die öffentliche Moral aber nicht gegen die Person der Frau. Alle Gesetze, die die Situation der Frau verbessert haben, waren Folgen der 68er Revolution und sind zwischen 1970 und 80 in Kraft getreten. Gleichzeitig dazu gab es eine ganz starke Frauenbewegung. Die Leute sind auf die Straße gegangen, haben für ihre Rechte gekämpft – das war eine Bewegung, die vom Volk ausging nicht von den Intellektuellen. In jeder Stadt gab es Gruppen, die sich aus Frauen der verschiedensten sozialen Schichten zusammensetzten.

Dann sind die Ideologien gestorben. Und der Feminismus ist zerbröckelt, auseinandergebrochen. Die Ideologie hat diese Fähigkeit, Kräfte zu bündeln. Das hat man komplett verloren. Da kann man gar nicht mehr von Feminismus reden. Aber es sind viele Initiativen entstanden, die Frauen und ihre Rechte verteidigen und ihnen helfen. Ich könnte Ihnen hunderte nennen – sie arbeiten aber ausschließlich auf einer praktischen Ebene, kommen ohne Ideologie aus.

Jetzt aber ist ein neues Phänomen aufgetaucht, das es bisher nicht gegeben hat: der Frauenmord. Das sind Verbrechen gegen Frauen, die fast alle innerhalb der Familie stattfinden. Ich interpretiere das als eine Reaktion auf die Emanzipation der Frauen. Fast all diese Verbrechen – letztes Jahr waren es 120 heuer sind es 130 – das ist fast ein Mord alle 2 Tage – sind, glaube ich, eine unbewußte kulturelle Reaktion auf ein neues Frauenbild; das sind für mich kulturelle Phänomene, die haben nichts mit dem Unterschied zwischen den Geschlechtern zu tun; ein Kind wird nicht gewalttätig geboren, es wird gewalttätig, weil es in einem Ambiente aufwächst, in dem immer noch die Werte des Besitzes, der Herrschaft, der Angst vor dem Betrogenwerden, dem Verlassenwerden, stark sind.

Die frauenfeindliche Kultur hier ist sehr schwer zu überwinden.

IM: Und die Regierung Berlusconi hat dabei nicht wirklich geholfen, oder?

DM: Die Regierung Berlusconis hat alles nur noch schlechter gemacht, hat Italiens Entwicklung um viele Jahre zurückgeworfen. Er hat uns ein Fernsehen aufgezwungen, in dem der weibliche Körper nur als Ware gesehen wurde. Und er hat damit auch die Idee einer Kultur vermittelt, in der es nur ums Kaufen und Verkaufen geht. Er hat die Kultur durch den Markt ersetzt.

Jetzt reicht es aber, die Leute haben es satt. Man spürt den Aufstand. basta! Schluß mit dem Berlusconismus, der wie ein Zauber gewirkt hat. Als wäre Italien in einen Dornröschenschlaf gefallen, einem moralischen, ethischen Stillstand, in dem alles möglich war.

IM: Man spürt doch diese Atmosphäre der Veränderung auch in Rom, nicht wahr. Das sagen viele meiner Kollegen, die hier arbeiten, dass ein Neuanfang in der Luft liegt.

DM: Ich denke doch. Und vielleicht verdanken wir das ja sogar der Krise. Die Krise hat die Leute aufgerüttelt. Die Gesellschaft verarmt und die Leute fragen sich: „warum sind diejenigen, die uns regieren, die Reichsten von allen?“ Dieser junge Regierungschef Renzi – keine Ahnung, wie das ausgeht mit ihm, ich hoffe gut – er hat auf jeden Fall einen Stein in den Teich geworfen; hat die Leute aufgeweckt, hat Bewegung in die Politik gebracht, die so unbeweglich schien: nichts ist mehr passiert, aus Angst vor der Kirche, aus Angst vor der öffentlichen Meinung , vor den Rechten etcetera. Wir müssen einfach wieder etwas TUN.

IM: Wie lebt man in Rom? Sagen wir eine Lehrerin, die vermutlich recht wenig verdient …

DM: Ist ja kein Zufall, sind alles Frauen!

IM: Wie lebt so eine junge Frau in Rom – kann sie sich das überhaupt leisten?

DM: Schauen Sie, zum Glück, oder unglücklicherweise, das weiss ich nicht, gibt es in Italien noch immer die Familie als große Stütze im Leben. Noch immer ersetzt bei uns die Familie die öffentlichen Dienstleistungen, die Kindergärten, die es nicht gibt, die Altenbetreuung, die es nicht gibt… Eine Frau in Italien muss wirklich hoffen, diesen Rückhalt zu haben. Dann kümmern sich die Großeltern um die kleinen Kinder, es gibt Onkel und Tanten, die ihr helfen, vielleicht einen privaten Kredit geben, damit sie ihre Wohnung zahlen kann… Wenn sie das nicht hat, lebt sie nicht in Rom.

IM: In Rom gibt es die größte Universität Europas, viele gut ausgebildete junge Leute – wie schauen ihre Perspektiven aus? Schon lange hat man in Italien von der „Generation 1000 €“ gesprochen, ist daraus mit der Krise jetzt eine Generation „900 €“ geworden?

DM: Unsere Unis sind leider ziemlich schlecht. Weil da noch immer so ein feudales System herrscht; die Schulen, Volks- und Mittelschulen, sind da viel fortschrittlicher; aber je weiter man hinaufkommt, in die Universitäten, wo auch die Gehälter viel höher sind, dort gibt es noch – nicht in allen Unis freilich, es gibt auch hervorragende in Italien – ein sehr starres hierarchisches System. Es gibt einen Boss, der entscheidet, dazwischen ist alles blockiert und steht still, es fehlt die Meritokratie – also die Amtsträger werden NICHT aufgrund ihrer Leistung ausgewählt. Meritokratie wäre für mich die wichtigte Entwicklungskraft in einem Land. Bei uns gehen die Studenten auf die Uni, sind brav, studieren fertig, und dann finden sie keine Arbeit und gehen ins Ausland. Weil man eben mit Leistungen hier nicht weiterkommt. Wenn es Ausschreibungen gibt für neue Posten in Lehre, Verwaltung oder Medizin, dann weiss man, dass man nur mit Beziehungen zu diesem Job kommt. Das ist leider immer noch so. Ich hoffe, dass sich das Klima jetzt verändert, weil man beginnt, das als Skandal wahrzunehmen. Auch weil so die Besten das Land verlassen. Hier funktionieren die Institutionen noch nicht. Sie stecken noch immer in diesem hierarchischen Korsett, traditionell, patriarchal, in dem auch die Frauen nach wie vor, wenig wert und respektiert sind, daher gehen sie weg.

IM: Um noch einmal auf Rom zurückzukommen: es ist doch interessant, dass sich der Tourismus in der Stadt in den letzten Jahrzehnten vervielfacht hat, es kommen viele Leute und lassen viel Geld da, trotzdem ist Rom immer nur einen kleinen Schritt vom Bankrott entfernt – wohin verschwindet das ganze Geld?

DM: Ich glaube, das Geld ist da. Das ist kein armes Land. Trotz Krise. Das liegt an der schlechten Verwaltung. Schlecht auch deshalb, weil sie sich so weit von den Menschen entfernt hat, weil die Politiker nur an die eigenen Interessen denken, ihre Privilegien, und jede Beziehung zu den Menschen verloren haben. Warum? Weil sie ihren Job nicht bekommen haben, weil sie so gut wären. Sie verwalten unser Vermögen, weil sie mit dem oder dem befreundet sind, in dessen Clique etcetera. Das ist schlimm und wir zahlen den Preis dafür mit dieser Krise.

IM: Glauben Sie, dass der Boden für diese Freunderl- und Vetternwirtschaft deshalb in Rom so besonders fruchtbar ist, weil das schon immer so war? Weil die Menschen, die dem jeweiligen Papst nahe standen, Privilegien ohne Ende hatten?

DM: Das ist eine Gesellschaft, in der es immer die besonders Reichen und die besonders Armen gegeben hat. Die Privilegierten, ja, die Kirche ist auch immer reicher und mächtiger geworden, ABER: ich muss sagen, dass es immer auch eine ANDERE Kirche gegeben hat, selbst hier in Rom, die sich am Evangelium, am heiligen Franziskus orientiert hat. Und jetzt mit diesem neuen Papst scheint sich auch etwas zu verändern. Er hat vielleicht verstanden, dass es zu viel Distanz gibt, zwischen dieser prächtigen, mächtigen, reichen Kirche mit ihren Juwelen und wertvollen Stoffen und den Menschen, die Hunger haben, oder es zumindest gerade nicht leicht haben, arbeitslos sind. Ich hoffe, sie lassen ihn arbeiten, er macht das gut. Das sage ich als Atheistin, ich bin überhaupt nicht gläubig oder katholisch; ich sehe aber, dass er aufräumt und das ist sehr wichtig. Es stimmt natürlich, dass Rom so eine Stadt ist, aber ich glaube an Erziehung, an kulturelle Erziehung. Wenn es also eine neue Vorstellung von öffentlichem Leben gibt, Respekt vor dem Gesetz, Respekt vor dem anderen, größere Solidarität, dann kann sich etwas verändern. Es ist nicht gesagt, dass es immer so sein muss. Das ist kein Schicksal.